Die ernste allgemeine Verunsicherung

Kleinere Attentate entfalten im Hall des medialen Großraums große Wirkung.
Rund 200 Milliarden Euro geben die Staaten der EU jährlich für ihr Militär – fast durchwegs für Berufssoldaten – aus. Dennoch beteiligen sie sich am Krieg gegen den „Islamischen Staat“ nur mit ein paar Flugzeugen an der Seite der U. S. Air Force. Bodentruppen zu entsenden, haben sie nie erwogen, obwohl der IS voran Europa den Krieg erklärt hat. (Auf seinen Landkarten zeichnet er „seine“ europäischen Gebiete ein.)
Europas Soldaten riskieren ungern den Tod – die Kämpfer des IS riskieren ihn begeistert. Dieser Unterschied ist sympathisch, aber nicht zwingend erfolgversprechend.
Soweit es das Nah-Ziel des IS ist, Europa maximal zu verunsichern, ist ihm das gelungen. Obwohl der Tod bei einem Verkehrsunfall unverändert tausendmal wahrscheinlicher als der Tod bei einem Terror-Anschlag ist, lässt die Angst davor manche Menschen bereits Ansammlungen meiden. Es ist der „Kontrollverlust“, der so sehr irritiert: Einen Verkehrsunfall glaubt man, durch Achtsamkeit vermeiden zu können – aber selbst den Besuch einer kleinen Kirche in Frankreich oder die Fahrt in einem deutschen Regionalzug zu meiden, ist unmöglich.
Deshalb hat das Axt-Attentat bei Würzburg und zuletzt das Messer-Attentat bei Rouen kaum weniger Ängste ausgelöst als der Mega-Anschlag in München, bei dem ein Rechtsradikaler (er war stolz, am gleichen Tag wie Adolf Hitler geboren zu sein) neun Menschen erschoss.
„Wir werden euch überall treffen – auch in eurem eigenen Haus“, lautete die Drohung der Islamisten, und sie haben sie, von Frankreich ausgehend, europaweit verwirklicht: Dank der bombastischen TV-Inszenierungen und engen medialen Vernetzung empfinden wir die Attentate in einer Kirche in Frankreich oder in einem Zug in Bayern kaum anders, als hätten sie sich in nächster Nachbarschaft ereignet.

Die Polizei hat nur die Chance, vor Anschlägen zu schützen, die einen höheren Organisations- grad voraussetzen.
Das genießen auch die Attentäter: Eines ihrer durchgehenden Wesensmerkmale ist die Geltungssucht. Endlich erhalten sie die Aufmerksamkeit, die ihnen vermutlich ihr Leben lang vorenthalten wurde. Die bombastische Berichterstattung befördert nicht nur weitere Anschläge, sondern fordert auch Nachahmungstäter heraus: Selbst noch der Japaner, der an einem Tag 19 Behinderte umbrachte, könnte von Nizza inspiriert worden sein.
Psychisch defekte Mörder erleben derzeit eine Hoch-Zeit. Das ist bestürzend, aber man soll es auch umgekehrt sehen: „Menschenleben“ hat im „Westen“ einen erfreulich hohen Stellenwert – insbesondere in Ländern, in denen die Rate „normaler“ Blutverbrechen wie in Österreich ständig sinkt.
Als ich vorige Woche in einem Online-Kommentar („Die Stunde der Irren“) auf die Beförderung islamistischer Anschläge durch psychische Krankheiten einging, erntete ich Empörung, obwohl dieser Konnex sachlich außer Zweifel steht. Hier wird eine Diagnose mit einer Entschuldigung verwechselt. Dabei sagt selbst Sigmund Freud: „Was ich auf meiner Couch noch eben als Neurose behandelt habe, ist bereits in meinem Vorzimmer eine Ungezogenheit.“ Es ist einfach zielgenauer, zu erkennen, dass sich hier der Islamismus psychisch Kranker bedient, als von einer „Blitz-Radikalisierung“ der Täter durch Islamisten zu sprechen. In diesen Tätern in erster Linie „Dschihadisten“ bzw. „Kämpfer des islamischen Staates“ zu sehen, erweist ihnen zu viel Ehrerbietung. Genau die Ehrerbietung, die der „Islamische Staat“ und alle potenziellen Attentäter sich wünschen.
Klarzustellen, dass sie psychisch Defekte, Kranke sind, vermindert die Neigung, ihnen nachzueifern.
Diese Diagnose bedeutet auch nicht, den Einfluss des Islam zu negieren: Natürlich liefert eine Religion, deren heiliges Buch das Töten „Ungläubiger“ erlaubt, (wie das übrigens auch die Bibel tut) dem psychisch Kranken eine besonders einfache Rechtfertigung seiner Tat, obwohl sie theologisch auch im Islam in dieser Form nicht gegeben ist. Aber es ist nützlich, zu differenzieren: Die Anschläge in Paris setzten eine intakte islamistische Organisation voraus – bei etlichen der jüngsten Anschläge genügte die desolate psychische Struktur der Täter. Diese Differenzierung ist deshalb so wichtig, weil sie der Schwierigkeit der polizeilichen Arbeit gerecht wird.
Die größte Empörung in meinem Online-Kommentar löste nämlich der Satz aus, dass es absurd sei, zu erwarten, dass die Polizei uns vor den Taten psychisch Kranker schützen könne. „Wozu haben wir sie dann?“, meinte ein Leser.
Aber die Polizei hat nur die Chance, vor Anschlägen zu schützen, die einen höheren Organisationsgrad voraussetzen: Dann kann sie vom Einkauf von Sprengstoff oder Waffen erfahren und Schlüsse aus abgehörten Telefonaten ziehen. Dass jemand, der an einer psychischen Störung leidet, für sich zu dem Schluss kommt, dass seine krankhafte Sehnsucht nach dem Tod und sein krankhafter Drang, andere zu töten, ihn zum Helden im Dienste Allahs prädestinieren, können Polizisten einem Flüchtling oder Migranten so wenig ansehen wie einem Deutschen.
Ebenso unmöglich ist die Bewachung aller potenziellen Tatorte – obwohl das Militär dabei wenigstens einen Teil- Zweck erfüllen kann.

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