Die Einsamkeit des Kampfpiloten

Ein parteiisches Plädoyer für seinen Freispruch und gegen die Sicht der Rechtsexperten.


Zu meiner Freude hat die Bevölkerung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz ein besseres Verständnis von Recht und Gerechtigkeit, als die meisten der Montagabend im Fernsehen diskutierenden Rechtsexperten bewiesen, indem sie den Kampfpiloten in Ferdinand von Schirachs Thriller “Terror – Ihr Urteil” mit 86 (Schweiz: 84) Prozent vom Vorwurf des Mordes freisprach. (Die Theater-Aufführungen mit eingerechnet wären es sogar über 90 Prozent gewesen.

Man muss tatsächlich ein Rechtsexperte sein, um jemanden wegen Mordes zu verurteilen, der ein Flugzeug mit 164 Passagieren abschießt, weil das die unbestritten einzige Möglichkeit ist, 70 000 in einem Stadion versammelte Menschen zu retten, auf die die Maschine zurast.

In den 1960er-Jahren als Gerichtssaalberichterstatter habe ich mich bei der Diskussion der Rechtsphilosophin Elisabeth Holzleithner mit dem Verfassungsrechtler Heinz Mayer und Justizminister Wolfgang Brandstetter an die Worte eines der wenigen damals humanen Strafrichter am Wiener Landesgericht, erinnert: Es sei die Kunst des Richters, meinte Oberlandesgerichtsrat Heinz Holzer mir gegenüber lachend, jene juristische Argumentation zu finden, die ein gerechtes Urteil möglich mache.

Im Falle von Schirachs Kampfpiloten hat das Plädoyer des Verteidigers dafür durchaus einen Ansatzpunkt geboten, indem er darin korrekt festhielt, dass das Urteil des Verfassungsgerichtshofes, wonach es der Bundeswehr nicht gestattet sei, Passagiermaschinen abzuschießen, um eine ungleich größere Zahl von Menschenleben zu retten, ja noch keineswegs besage, dass der Kampfpilot, der es dennoch tut, vom Strafrecht her als Mörder anzusehen ist.

Mich hat erstaunt, wie lange es gedauert hat, bis den Diskutanten der übergesetzliche Notstand eingefallen ist. Und Heinz Holzer hätte vermutlich auch ein simples strafrechtliches Argument ins Treffen geführt: Jedes Verbrechen, natürlich auch “Mord” bedarf böser Absicht – “Dolus”, wie er bei Schirachs Piloten völlig auszuschließen war – er wollte ja in keiner Weise 164 Menschen umbringen, sondern 70 000 Menschen retten. Aber auch der sogenannte “Dolus eventualis” – die billigende, zustimmende, Inkaufnahme des Todes dieser hundertvierundsechzig – war nicht gegeben: Der Pilot nahm ihren Tod zwar objektiv in Kauf, indem er das Flugzeug abschoss, aber er billigte diesen Tod in keiner Weise, sondern war darüber im Gegenteil verzweifelt. Damit liegt in meinen laienhaften Augen auch kein “Dolus eventualis” vor.

Mich hat erstaunt, wie lange es gedauert hat, bis den Diskutanten der übergesetzliche Notstand eingefallen ist

Ich bin jedenfalls zuversichtlich, dass Heinz Holzer den Piloten mit dieser Begründung auch in Kenntnis der Europäischen Konvention und der Rechtsansicht des Verfassungsgerichtshofes freigesprochen hätte, wenn das ihm anstelle von Geschworenen oblägen wäre. Dieser Freispruch wäre freilich zweifellos angefochten worden und vor dem Obersten Gerichtshof gelandet. Der hätte dann die Möglichkeit gehabt, sehr wohl eine Judikatur zu begründen, die es erlaubt, abzuwägen, wann man eine kleine Zahl von Menschenleben opfern darf, um eine ungleich höhere Zahl von Menschenleben zu retten.

Mit Schirachs Kampfpiloten und dem deutschen Verteidigungsminister Franz Josef Jung bin ich im übrigen der Meinung, dass das Urteil des Deutschen Verfassungsgerichtshofes, das den Abschuss grundsätzlich untersagt, ein Fehlurteil ist: Der Gerichtshof hat sich m.E. um die unglaublich schwierige Aufgabe gedrückt, Kriterien zu formulieren, unter denen dieser Abschuss zulässig ist. Er hat damit eine Rechtslage geschaffen, die in ihrer Absurdität noch weit über Schirachs Beispiel hinausgeht: Selbst wenn das Passagierflugzeug nur mit einem Passagier, ja nur mit dem bedrohten Linienpiloten besetzt gewesen wäre, hätte es laut VGH nicht abgeschossen werden dürfen, weil der Verlust dieses einen unschuldigen Lebens nicht gegen den drohenden Verlust zehntausender unschuldiger Leben abgewogen werden dürfe.

“Die Würde des Menschen ist unantastbar” ist zwar ein wunderschöner, aber in meinen Augen ein juristisch unbrauchbarer Satz. Es erschiene mir wesentlich nützlicher, ihn durch weniger schöne präzisere Sätze zu ersetzen: “Jeder Staat hat die Aufgabe, die physische Unversehrtheit von Menschen, die sich auf seinem Hoheitsgebiet befinden, mit allen Mitteln zu schützen” klingt ungleich weniger schön, lässt aber vernünftiges Abwägen zu.

‘Die Würde des Menschen ist unantastbar’ ist zwar ein wunderschöner, aber in meinen Augen ein juristisch unbrauchbarer Satz

Oder, um es umgekehrt zu formulieren: Ich halte ein Grundgesetz für verfehlt, in dem die Würde des Menschen dann gewahrt ist, wenn dieser Staat bereit ist, 70.000 Menschen umkommen zu lassen, um das Prinzip zu wahren, dass im Zusammenhang mit Menschenleben keine Abwägungen getroffen werden können.

Durchaus zu Recht kann sie im angelsächsischen Rechtsraum sehr wohl getroffen werden.

Ich bin in dieser Frage allerdings im höchsten Ausmaß Partei: Meine Mutter war als Häftlingsärztin in Auschwitz-Birkenau exakt in der Situation des Kampfpiloten in “Terror – Ihr Urteil”.
Wenn die Rechtsansicht des deutschen VGH, Heinz Mayers oder Wolfgang Brandstetters zutrifft, zählt Ella Lingens nicht unter die “Gerechten der Völker” unter die Yad Vashem sie gereiht hat, weil sie ihr Leben riskierte, um Juden zu retten, sondern ist nur durch Glücke einer Verurteilung wegen Mordes entkommen.

Im Frauenlager Auschwitz-Birkenau war bald nach ihrer Einlieferung Flecktyphus ausgebrochen, der durch Läuse übertragen wird. Als Häftlingsärztin hatte sie daher Dutzende solcher Fleckfieber-Kranken zu betreuen. In Absprache mit den anderen Häftlingsärztinnen verschwieg sie der SS jedoch den Ausbruch der Seuche, denn ihr war, wie allen ihren Kolleginnen, klar, wie die reagieren würde: Sie würde sämtliche Kranke in der Sekunde ins Gas schicken.

Sie würde sämtliche Kranke in der Sekunde ins Gas schicken

Uneingestanden, und daher nicht adäquat bekämpft, griff die Seuche freilich immer rascher um sich. Bis an manchen Tagen mehr Menschen an Fleckfieber starben, als in den Gaskammern ermordet wurden. Denn das einzige Mittel, ihr Einhalt zu gebieten, hätte darin bestanden, die allgemeine Verlausung durch eine groß angelegte Desinfektion aller Personen und Gebäude zu beenden. Und diese Desinfektion war nur möglich, wenn man der SS die Seuche eingestand und von ihr die notwendigen Desinfektionsmittel erhielt.

Das unterblieb durch weitere Wochen und die Seuche raffte weiterhin Tausende dahin.

Es war unvermeidlich, dass sich die Häftlingsärztinnen neuerlich zusammensetzten, um die dramatische Lage zu diskutieren. Meine Mutter nahm bei dieser Diskussion die Position des Kampfpiloten ein: Mann müsse die Krankheit melden, auch wenn man damit in Kauf nähme, dass die SS die aktuellen Kranken sofort ins Gas schickt. Denn wenn man der Seuche ihren Lauf ließe, wären demnächst so gut wie sämtliche Häftlinge tot, weil sich das Fleckfieber nicht linear, sondern exponentiell ausbreite.

In dieser Abwägung müsse man den furchtbaren Schritt der “Meldung” wagen. Man könne nur vage hoffen, dass die SS doch zurückscheuen würde, so viele Kranke, darunter auch “Arier” ja “Germanen”, auf einmal ins Gas zu schicken. Im übrigen würde von ihnen auch ohne Meldung, fast wie in Schirachs Flugzeug, nur ein Bruchteil die Krankheit überleben.
Es sei grauenhaft, aber die Meldung müsse sein.

Gegen diese Argumentation meiner Mutter sprach sich vor allem, eine großartige, französische Ärztin (ich hatte das Glück, sie nach dem Krieg kennen zu lernen) aus. Sie wendete ein, dass durch die “Meldung” erstmals Häftlinge andere Häftlinge dem Tod auslieferten. Damit aber würde eine Grenze überschritten, die fundamental für das Zusammenleben von Menschen sei.

Sie wendete ein, dass durch die ‘Meldung’ erstmals Häftlinge andere Häftlinge dem Tod auslieferten

In der folgenden Abstimmung blieb meine Mutter in der Minderheit und das große Sterben am Fleckfieber ging ungebremst weiter.

Bis auch die ersten SS-Männer erkrankten. Worauf der SS-Arzt Josef Mengele das Problem auf seine Weise löste: Er schickte einen ganzen Block teils auch gesunder Häftlinge geschlossen ins Gas, desinfizierte ihn, desinfizierte die Häftlinge des nächsten Blockes und übersiedelte sie in den desinfizierten. So der Reihe nach, bis das ganze Frauenlager entlaust war.

Das Fleckfieber war besiegt.

Meine Mutter hat diese Ereignisse in ihrem Buch (“Gefangene der Angst”) präzise beschrieben – ich habe sie Felix Mitterer einmal als Vorlage genau des Theaterstückes vorgeschlagen, das von Schirach geschrieben hat, aber er übersah die Sprengkraft.

Der Schluss, den meine Mutter aus den Ereignissen zog, ist auch in der montäglichen Diskussion am Rande vorgekommen: Es gäbe Situationen, in denen beim besten Willen unmöglich zu wissen sei, welches die richtige moralische Entscheidung ist. Man könne sich nur nach bestem Wissen und Gewissen darum bemühen.

“Schuldig” sei einzig ein politisches System, das Menschen zu solchen Entscheidungen zwinge.

Ach, dieser selbstverständliche Gedanke hat mir in der Diskussion über “Terror – Ihr Urteil” gefehlt: Eindeutig schuldig in Schirachs Szenario ist neben dem Krisenstab, der das Stadion nicht sofort räumen ließ, die Terrororganisation, die Passagierflugzeuge in Stadien lenkt. Terror, wie wir ihn noch nicht kannten, schafft Rechtsprobleme, wie wir sie noch nicht kannten. Man muss sich ihnen stellen, statt sich hinter der “Würde des Menschen” zu verstecken.

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