Das Volk entscheidet selten, wer es regiert

Die entscheidende Frage, wer mit wem koalieren will, wird selten vor der Wahl gestellt und so gut wie nie beantwortet. Auch nicht beim jüngsten “Runden Tisch” Claudia Reiterers. Auch “Österreichs wirklich große Probleme” die die neue Regierung besser als die alte lösen soll, blieben unbekannt.

Eigentlich hätte der “Runde Tisch” zwischen Herbert Kickl (FPÖ), Jörg Leichtfried (SPÖ), Ulrike Lunacek (Grüne) und Harald Mahrer (ÖVP) die Frage klären sollen, ob “neue Köpfe eine neue Politik” bedeuten. Soweit konnte die Diskussion angesichts dieser Zusammensetzung zu keinem Zeitpunkt gelangen. Dennoch ergab sich rasch ein aufschlussreicher Moment: Wirtschaftsminister Mahrer und Infrastrukturminister Leichtfried, die einander offenkundig schätzen, berichteten höchst glaubwürdig über eine Reihe sinnvoller Maßnahmen, die sie erfolgreich gemeinsam beschlossen haben. Danach war Mahrer freilich gezwungen, zu erklären, warum seine Partei die Koalition dennoch unbedingt aufkündigen musste.

An Stelle des von mir erwarteten kleinen Beispiels gebrauchte er eine große Formulierung: Die “wirklich großen Problemen Österreichs” seien nicht in Angriff genommen worden.

Nachdem er das mehrmals unwidersprochen wiederholt hatte, habe ich gehofft, durch eine Frage Claudia Reiterers zu erfahren, was die “wirklich großen Probleme Österreichs” sind. Aber diese Frage hat weder sie noch einer der Diskutanten gestellt.

Entsprechend werden sie wohl auch von der Bevölkerung wahrgenommen: Man kennt sie nicht wirklich – aber man weiß, dass die Regierung nichts weiterbringt.

Mir ist als größtes Problem die Bewältigung der größten Wirtschaftskrise seit 1929 im Sinn – aber genau die hat die rot-schwarze Regierung erstaunlich gut überwunden: Mit – auch wenn ich oft Geschriebenes wiederhole – geringerer Einbuße an Wachstum und geringerem Anstieg der Verschuldung als in vergleichbaren Ländern. Die Arbeitslosigkeit – um das größte verbliebene Problem zu benennen – ist bei uns auch nicht wie in Frankreich, Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, der Slowakei, Slowenien, Irland oder selbst Dänemark massiv gestiegen, sondern der Anstieg hat sich, wie sonst nur in Schweden, Großbritannien, Belgien und den Niederlanden in Grenzen gehalten. Besser unter vergleichbaren “alten” Ländern lag nur Deutschland – bei freilich schrumpfender Bevölkerung, weil es zuvor viel weniger Flüchtlinge aufgenommen hat.

Ich hätte also gemeint, dass die Regierung zumindest die größten der “wirklich großen Probleme Österreichs” recht passabel gelöst hat.

Die Wähler haben nur ausnahmsweise über ihre Regierung entschieden

Hat Claudia Reiterer die m.E. wichtige Frage nach den “wirklich großen Problemen” also zu meinem Bedauern leider unterlassen, so hat sie zu meiner Freude eine andere entscheidende Frage nicht nur angerissen, sondern mit aller Intensität mehrmals wiederholt: Wie es denn komme, dass Österreichs Parteien partout nicht verraten wollen, mit wem sie am liebsten koalierten.

So lange das so ist, ist die Behauptung, dass am 15. Oktober “der Wähler entscheidet” nämlich ein Witz.

Der Wähler, so behaupte ich, hat in Österreich nur in den seltensten Fällen über seine zukünftige Regierung entschieden, weil die Parteien nur in den seltensten Fällen bekannt gegeben haben, mit dem sie koalieren und damit die Regierung bilden werden.

Nach dem Krieg gab es eine von den Alliierten erzwungene Konzentrationsregierung. Bei den ersten Wahlen erlangte die ÖVP die absolute Mehrheit – Leopold Figl ging dennoch eine Koalition mit der SPÖ (vorerst KPÖ) ein. Dabei blieb es und entsprach vermutlich auch dem Willen der Bevölkerung: Sie schrieb dieser Koalition das “Wirtschaftswunder” gut. Jedenfalls wollte sie in ihrer Mehrheit 1966 keineswegs eine ÖVP -Alleinregierung – und hat sie dennoch bekommen, weil Josef Klaus sich nach einem überraschend klaren Wahlsieg dazu entschloss. Es war in meinen Augen eine durchaus erfolgreiche Alleinregierung, indem sie erste Schritte in Richtung Privatisierung der Verstaatlichen Industrie unternahm, den Rundfunk aus den Krallen der Regierungsparteien befreite und Finanzminister Stephan Koren eine Wirtschaftskrise lehrbuchmäßig überwand. Dass Koren ebenso lehrbuchmäßig auch das fürs Defizit- Spending aufgewendete Geld durch eine Bier- Zigaretten- Autokauf- und Luxussteuer wieder hereinzubekommen wollte, wurde ihm von der Bevölkerung freilich derart verübelt, dass die ÖVP die Wahl von 1970 gegen die SPÖ recht deutlich verlor. Gemäß allen Umfragen wollte die Bevölkerung damals wieder die große Koalition zurück- und bekam statt dessen eine von der FPÖ gestützte Minderheitsregierung Bruno Kreiskys, die vermutlich nicht einmal die Mehrheit des SP-Wähler hinter sich hatte.

Diese ungewollte Minderheitsregierung entpuppte sich freilich als derart erfolgreich, dass Bruno Kreisky 1971 nach Neuwahlen zu seiner größten Überraschung eine Alleinregierung bilden konnte – weder hatte er das vorher zu seinem Ziel erklärt, noch hatten es die Wähler, die ihm ihre Stimme gaben, herbeiführen wollen.

Allerdings entpuppte sich diese Alleinregierung als die erfolgreichste der Nachkriegsgeschichte. Bei den Wahlen von 1975 und 1979 lässt sich daher erstmals sagen: Bei diesen Wahlen wollte die Mehrheit der Wähler, dass Bruno Kreisky weiter alleine regiert.

Dass Fred Sinowatz nach Verlust der absoluten SP-Mehrheit die erst gemeinsame Regierung mit der FPÖ bildet, entsprach dagegen schon wieder keinem Wunsch der Bevölkerung, sondern dem Wunsch des abtretenden Bruno Kreisky, dem Sinowatz sich nicht zu widersetzen wagte.

Die Qualität dieser Regierung lässt sich nicht beurteilen, denn sie erbte die gewaltigen Probleme der letzten Amtsperiode Kreiskys: Österreichs größte Banken waren im Zuge einer neuerlichen Wirtschaftskrise ebenso pleite wie Österreichs größte Staatsbetriebe.

Die erste relativ klare Wahl-Ansage gab es bei Franz Vranitzky: Wer in seiner Ära SPÖ wählte, wusste, dass er damit eine rotschwarze- Koalitionsregierung bekam, weil Vranitzky eine Koalition mit der FPÖ ausschloss. Die Wähler haben in seiner Ära also tatsächlich “entschieden”, denn auch dass er als Sieger und damit Kanzler aus den Wahlen hervorgehen würde, war relativ klar.

Die vom Wähler am wenigsten gewollte Regierung war zweifellos schwarz -blau.

Am wenigsten gewollt hat die Mehrheit der Wähler zweifellos die Regierung, die Wolfgang Schüssel nach den Wahlen von 1999 gebildet hat: nach dem bis dahin schwächsten Abschneiden der ÖVP ermöglichte ihm die knapp stärkere FPÖ Jörg Haiders eine Regierung unter seiner Kanzlerschaft.

Hätte Schüssel das als sein Ziel genannt, hätte die ÖVP noch schlechter abgeschnitten. Der Wähler als “Souverän” wurde völlig überrumpelt.

Die Qualität der gebildeten Regierung ist bekanntlich im höchsten Ausmaß umstritten. In meinen Augen hat sie ihre Sache nicht so schlecht gemacht wie sie von der SPÖ gemacht wird: Befürchtete antidemokratische Übergriffe fanden in keiner Weise statt. Die wütend bekämpfte Pensionsreform hat die Finanzierung der Pensionen sehr wohl stabilisiert. Die schon unter Ferdinand Lacina begonnene Privatisierung der Staatsindustrie und allen Staatseigentums hat eine Reihe hervorragender Privatbetriebe, wenn auch etliche Skandale hervorgebracht. Die “schwarze Null” im Budget Karl Heinz Grassers war zwar ein Etikettenschwindel, aber man kann ihm keine budgetären Fehlleistungen nachsagen. Sein BUWOG-Verkauf fällt in die Kategorie der Skandale, die, wie der Eurofighter -Ankauf in erster Linie mit Politikern und Lobbyisten verknüpft sind, die aus der FPÖ kamen, auch wenn VP- Innenminister Ernst Strasser und VP-Lobbyist Alfons Mensdorff-Pouilly einen kräftigen Zusatz -Beitrag geleistet haben.

Jedenfalls waren Korruption und Korrumpierung, nicht aber demokratiepolitisches und oder gar wirtschaftspolitisches Versagen die großen Negativa in der Bilanz der Ära Schüssel. Dazu kam eine kritische Folgewirkung mit Langzeiteffekt: Auf Beamtenebene und in diversen semistaatlichen Institutionen wurden Freiheitliche von gelegentlich sehr dürftiger Qualifikation installiert, was nicht zuletzt an den dünnen fachlichen Personalreserven der Haider FPÖ gelegen ist.

Ob sich das unter H.C. Strache gebessert hat, wird eine der großen Fragen einer künftigen schwarz- blauen Regierung sein, die der runde Tisch nicht klären konnte, weil von neuen blauen Köpfen – siehe oben- so wenig die Rede war wie von neuen roten und schwarzen Köpfen.

Davon, dass die Bevölkerung “entscheidet”, kann nicht die Rede sein.

Ob diese schwarz -blaue Regierung nach Jahren einer nicht wirklich gewollten rot-schwarzen Regierung tatschlich kommt, bestimmt einmal mehr nicht, wie alle Beteiligten behaupten, der Wähler. Denn dazu müsste Österreich entweder ein mehrheitsförderndes Wahlrecht (wie etwa Frankreich) haben, oder die Parteien müssten sagen, was Claudia Reiterer vergeblich gefordert hat: Mit wem sie am ehesten zu koalieren gedenken.

Sebastian Kurz müsste sagen: Wer mich wählt, wählt eine schwarz blaue Regierung unter meiner Führung. Genau das sagte er in dieser Deutlichkeit kaum, weil es die Chancen auf seinen Wahlsieg verminderte.

Genau so wenig sagt H.C. Strache, mit wem er lieber koalierte, weil er es ausschließlich nach seinem Gutdünken entscheiden will. Die tönende Floskel dafür lautet (wie bei den anderen Beteiligten), dass es davon abhinge, wie viel freiheitliches Programm er in der jeweiligen Koalition verwirklichen könne.

Christian Kern hat zumindest gesagt, dass er am liebsten mit den Grünen und den Neos koalierte, dass das vermutlich aber zu keiner Mehrheit reicht. Der “Kriterien-Katalog”, den die SPÖ derzeit erarbeitet, wird eine Koalition mit der FPÖ zweifellos nicht ausschließen, weil Kern der SPÖ natürlich auch diese Möglichkeit offen halten muss.

Der Wähler kann also ziemlich unabhängig vom Wahlausgang statt einer schwarz-blauen sehr wohl auch eine rot -blaue Koalition bekommen. Davon, dass die Bevölkerung diese zentrale Frage “entscheidet”, kann nicht die Rede sein.

Vielleicht befördert das doch die Diskussion über ein anderes Wahlrecht.

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12 Kommentare

  1. Beginnen wir doch eine Diskussion über ein personenbezogenes Mehrheitswahlrecht! Abschaffung des Listen (Parteien) Wahlrechtes! Ein Anfang dazu wäre eine Aufwertung des Systems der Vorzugsstimmen.Geht es den Briten mit ihrem Mehrheitswahlrecht besser?

  2. Wirklich schade, dass die Frage nach den “wirklich großen Problemen” Österreichs nicht gestellt wurde. Sie hätte Herrn Mahrer mit Sicherheit aus dem Konzept gebracht, wenn auch nicht den Zusehern die Augen geöffnet, dass die “große” Koalition keineswegs so schlecht gearbeitet hat, wie es derzeit Common Sense zu sein scheint.

  3. Dem Land geht es trotz aller, immer wiederkehrenden, politischen Turbulenzen gut. Ein Umstand der das Nachdenken über Koalitionen verhindert. Und, natürlich werden Politiker auf die Tatsache verweisen, dass die Wähler entscheiden – das ist, zumindest für sie, gut und billig. Die Wähler sind so auch leichter zu manipulieren, nur wenige von Ihnen haben die Möglichkeit sich mit allen Parteiprogrammen auseinandersetzen. Zu sehr bewegen Sympathie oder Antipathie ihre Handlungen. Es fehlen die Fragen nach Inhalten an denen man sich festhalten kann. Joseph Brösel

  4. …frau claudia reiterER sollte schon mit ihrem wirklichen namen genannt werden… wenn dieser runde tisch schon ausgangspunkt des artikels ist ;-)….lg h

      1. Also wenn schon denn schon, es sollte der vollständige Name von Frau Reiterer korrigiert werden auf Claudia Lockl-Reiterer. Denn dass die ORF Zentrum-Moderatorin mit dem ehemaligen Bundessekretär der Grünen und deren Kampagnenleiter Lothar Lockl verheiratet ist, das wird ja gerne verschwiegen, weil man daraus ja eine Befangenheit ableiten könnte.

  5. “Finanzminister Stephan Koren überwand eine Öl-Schock-bedingte Wirtschaftskrise lehrbuchmäßig”….soweit ich mich erinnern kann war die erste Erdölkrise 1973 und die zweite 1979. Beide male war Stephan Koren nicht mehr Finanzminister.

    1. Wo bitte steht im Text was von einer ölschockbedingten Krise? 1967/68 schwappte eine von der Bundesbank ausgelöste Rezession nach Österreich über.

      1. Offenbar weil Herr Lingens zwischenzeitig den Text korrigiert hat. Ursprünglich lautete die Formulierung: „Finanzminister Stephan Koren überwand eine Öl-Schock-bedingte Wirtschaftskrise lehrbuchmäßig”, denn ich habe vor zwei Wochen diese Textpassage so rauskopiert und in meinen Bemerkungen übertragen.

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