Der marktwirtschaftliche Sinn der Kollektivverträge

Ohne Kollektivverträge würde gleiche Leistung restlos ungleich bezahlt und verbesserte sich die Wirtschaftsstruktur entsprechend langsamer. Die Gewissheit, dass sie Kollektivverträge abschließen, ist daher der eigentliche Nutzen der “Kammern”.

Für mich gibt es keinen Zweifel, dass die türkis-blaue Regierung noch vor Weihnachten steht. Denn auf dem Weg dorthin gibt es nur eine größere Hürde: Die “Kammern”.

Sebastian Kurz will ihre Macht zwar beschränken, aber er will ihre gesetzliche Verankerung und Finanzierung (“Zwangsmitgliedschaft”) im Gegensatz zur FPÖ und den NEOS nicht abschaffen.

Gott sei dank.

Es ist richtig, dass beide mehr kosten als sie müssten: Ein Mitarbeiter der Wirtschaftskammer (von der man die Zahlen kennt) kostete 2014 pro Jahr 120.000 Euro.

Doch dergleichen lässt sich abbauen.

Der Hauptgrund dafür, dass die Kammern sogar in der Verfassung verankert sind, ist hingegen unverzichtbar: ihnen ist der Abschluss von Kollektivverträgen übertragen. Alle Mitglieder der Wirtschaftskammer – also alle Unternehmen- sind wie alle Arbeitnehmer an die Verhandlungsergebnisse gebunden.

NEOS -Wirtschaftssprecher Sepp Schellhorn argumentierte im TV-Duell dass Österreich das einzige Land mit “Kammerzwang” sei. Ich hätte ihm als Kammer-Gegenüber geantwortet: “Ja! Da sind wir allen anderen voraus. Es gibt in Europa auch kein anderes Land, das sich seit 1945 wirtschaftlich derart verbessert hat.”

Die Löhne der Masse der Österreicher werden von Experten verhandelt, die nicht nur über betriebs- sondern auch volkswirtschaftliche Kenntnisse verfügen. Den Unternehmern sitzen nicht nur von ihnen abhängige Betriebsräte gegenüber, die von einer Belegschaft entsandt sind, die panische Angst vor dem Verlust ihrer Jobs haben, sondern auch ÖGB bzw. AK.

Weil das Kräfteverhältnis dadurch etwas ausgeglichener ist, wollen denn auch alle Neoliberalen – derzeit etwa Frankreichs Emmanuel Macron – die Verhandlungen dringend auf Betriebsebene verlagern. Und erhalten dafür sogar von manchen Arbeitnehmern Beifall, weil es auf den ersten Blick bestechend klingt:

Warum sollen z.B. Metallarbeiter in einem Betrieb, dem es gut geht, nicht die höchsten Löhne fordern? Ist es nicht äußerst vernünftig, dass sie in einem Betrieb dem es miserabel geht, auch den niedrigste Lohn akzeptieren?

Nein, ist es nicht! Weil es das absolute Gegenteil funktionierender Marktwirtschaft wäre: Schwache Betriebe sollen sich nämlich zu stärkeren zusammenschließen oder den Markt räumen. Starke Betriebe sollen expandieren, vielleicht sogar neue Branchen erschließen, statt höchste Löhne zu zahlen.

Nur höhere Löhne für die gleiche Leistung verbessern die Wirtschaftsstruktur maximal, indem die besten Bertriebe überleben und die Branchen mit der größten Zukunft am stärksten wachsen.

Die unterschiedliche Bezahlung, z B. von Metallarbeitern, in schwachen bzw. starken Betrieben widerspricht dem Marktmodell maximal: Folgte der Arbeitsmarkt nämlich Markt- Gesetzen, so müssten schlecht bezahlte Metallarbeiter sukzessive aus schwachen Betrieben in stärkere mit besserer Bezahlung abwandern. Dort müssten die hohen Löhne angesichts des steigenden Metaller- Angebots sukzessive sinken, während sie in den schwachen Betrieben angesichts des drohenden Metaller-Mangels sukzessive steigen müssten. (Eine Übersiedlung der Betriebe aus Metaller- Hochlohn- in Metaller- Niedriglohn-Gegenden führte zum selben Ergebnis) Am Ende müssten sich die Metallarbeiter -Löhne in einem funktionierenden Markt also angeglichen haben und es müsste die von seinen Anhängern geforderte Gerechtigkeit herrschen: gleiche Leistung würde überall gleich bezahlt und damit wäre auch der Wettbewerb der Unternehmen der denkbar fairste – es überlebten wirklich die eindeutig besten.

Wir wissen alle, dass der reale Markt nicht entfernt so funktioniert. Arbeitskräfte sind, schon gar in Österreich, nicht entfernt so beweglich – sie hängen an ihren Wohnungen, Schulen, Freunden. Betriebe sind kaum anders – sie hängen an ihren Standorten, Zulieferern, Bahn-Anschlüssen. Daher nähern sich die Löhne einander in der Realität nur sehr bescheiden an und schon gar nicht wird gleiche Leistung gleich entlohnt.

Der “Markt” ist mangels Beweglichkeit von Arbeitnehmern wie Betrieben weitgehend ausgeschaltet, und wäre es zur Gänze wenn die Gewerkschaft das via Arbeiterkammer nicht durch Kollektivverträge verhinderte: In einem Kompromiss zwischen Lebens-Realität und Markterfordernis befördern Kollektivverträge die zumindest notdürftigste Verbesserung der Wirtschaftsstruktur indem sie zumindest die restlos ungleiche Bezahlung gleicher Leistungen verhindern.

Bei den Gewerkschaften nennt man diese Nachhilfe für den Markt “solidarische Lohnpolitik” und hat sie leider in dem Ausmaß lascher geübt, in dem auch dort die Angst vor der Schließung eines spezifischen Betriebes neoliberales – in diesem Fall marktfremdes- Denken Einzug halten ließ, statt dass man im Wissen um die Richtigkeit der eigenen Politik überall stärker auf höheren Lohnabschlüssen beharrt und damit die Entstehung stärkerer und neuer Betriebe und Branchen stärker befördert hätte.

Die OECD, von der die neoliberale Idee der “Flexibilisierung” durch betriebsspezifische Verträge ausging, musste jedenfalls, als sie kürzlich eine Studie abschloss, die eigentlich deren Vorteil bestätigen sollte, zu ihrer – nicht meiner- Überraschung das Gegenteil zur Kenntnis nehmen. Denn die Autoren kamen zu folgendem Schluss: “Stärker zentralisierte/koordinierte Ökonomien haben bedeutend weniger Einkommensungleichheit als stärker dezentralisierte/unkoordinierte. Darüber hinaus…(zeigt sich)… eine Tendenz, dass stärker koordinierte Verhandlungssysteme niedrigere Arbeitslosenquoten und höhere Erwerbstätigenquoten haben als andere, weniger koordinierte Systeme.

 

 

 

 

 

5 Kommentare

  1. Sehr geehrter Herr Lingens,

    wo ist die von Ihnen erwähnte OECD Studie veröffentlicht bzw. könnten sie bitte einen Link darauf posten?

    Besten Dank.

  2. Hinweis auf Forschungskollektivvertrag, der dann auch Basis fuer die Unis wurde – siehe

    http://www.execupery.com/dokumente-2015/Forschungskollektivvertrag.pdf

    Seinererzeit eine echte Innovation, in die ich viel Gehirnschmalz gesteckt habe – wie in vieles andere auch, so z.B. den Wissensbilanzreport, der als Berichtsverpflichtung fuer alle Unis in die Gesetzgebung Eingang gefuden hat.
    Da „die Blauen“ mich als Chef des Forschungszentrums abgesaegt hatten, ist vieles von den damaligen Reformleistungen untergepfluegt und damit unsichtbar geworden.

  3. Ich hätte folgenden Lösungsvorschlag parat, damit weder ÖVP noch FPÖ ihr Gesicht verlieren: Es geht völlig unter, dass es neben der AK-Zwangsumlage und dem freiwilligen ÖGB-Beitrag noch einen Abzugsposten für die Arbeitnehmer gibt, nämlich die 1%ige Betriebsratsumlage. Man fragt sich wirklich, wofür diese 1% Umlage abkassiert wird und wofür es nicht einmal die Deckelung einer Höchstbeitragssumme (im Gegensatz zur AK-Zwangsumlage, die übrigens nur die Hälfte der Betriebsratsumlage beträgt) gibt. Ich erinnere mich noch genau an einen Skandal in der VOEST mit dem unseligen Arbeiterbetriebsrat Ruhaltinger, wo die VOEST Betriebsräte aus Mitteln der Betriebsratsumlage Vergnügungsreisen unter dem Titel „Studienreisen“ finanzierten. Wenn zumindest die Betriebsratsumlage auf 0,5% heruntergesetzt wird, dann ergäbe das die gleiche Ersparnis wie eine Aufhebung der AK-Zwangsumlage.

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