Wie viele Tote braucht Jerusalem?

Dass Jerusalem demnächst zweifellos auch offiziell Israels Hauptstadt sein wird, kostet derzeit täglich mindestens ein Dutzend Palästinenser das Leben. Es wird an dieser Entwicklung nichts ändern, denn die Hamas wird dadurch nicht stärker und Israels Ruf leidet darunter nicht mehr, als er schon bisher gelitten hat. Der eigene Palästinenserstaat ist tot. Jede sonstige Vorstellung einer “friedlichen Lösung” ist blanke Illusion. Ich will hier trotzdem eine solche Illusion skizzieren – die dafür nötige Naivität bringe ich mit.

Jerusalem war für mich immer die Hauptstadt Israels. Das lag an einer Erzählung, mit der ich aufgewachsen bin. “Nächstes Jahr in Jerusalem”, so erinnerte sich meine Mutter an ihre Haft in Auschwitz, ,,waren die letzten Worte, die Jüdinnen ihr zuriefen, wenn sie an ihr vorbei in die Gaskammer geführt wurden. Seit damals war für sie – und ist für mich – eine andere Stadt als Hauptstadt des “Judenstaates” nicht denkbar.

Natürlich geschah den Palästinensern unrecht, aber…

Mir war klar, dass dieser Staat in einem Gebiet errichtet wurde, auf dem ursprünglich Palästinenser die klare Bevölkerungsmehrheit stellten und dass ihnen ihr Boden keineswegs immer rechtmäßig abgekauft wurde – dass sie des Öfteren vertrieben wurden. Aber der Raum, von dem ich glaubte, dass er ihnen offen stand, schien mir groß genug: Die UNO hatte ihnen rund die Hälfte Palästinas zugesprochen, in allen arabischen Nachbarländern lebten palästinensische Minderheiten und im riesigen Jordanien bildeten sie sogar die überwältigende Mehrheit, so dass ich meinte, dass die Vertriebenen dort aufgenommen werden könnten.

Nicht anders als Österreich und Deutschland nach dem Krieg zwei Millionen zu unrecht vertriebener Sudetendeutscher aufgenommen hat.

Kreiskys Idee eines eigenen Palästinenserstaates habe ich zwar für eine anständige, nicht aber erfolgversprechende Lösung gehalten: Er würde an der Seite Israels nur kriegerische Auseinandersetzungen heraufbeschwören, wenn er alle Palästinenser dieses Raumes aufnähme.

Meine Gedankengänge mögen moralisch anfechtbar gewesen sein – realpolitisch waren sie zumindest nicht ganz falsch.

Ein Palästinenser-Führer, der den Holocaust verdammt…

In den Siebzigerjahren habe ich allerdings jemanden kennengelernt (und mich herzlich mit ihm angefreundet), der sie auf eine Weise in Frage gestellt hat, die mich schwankend gemacht hat: Issam Sartawi war der außenpolitische Sprecher der PLO und wurde von Kreisky als Außenminister des künftigen Palästinenserstaates angesehen.

Das führte dazu, dass er den PLO-skeptischen Herausgeber des “profil” kennenlernen wollte und das am Telefon folgendermaßen begründete: “Ich bewundere Ihre Mutter für ihren Mut zum Widerstand. Der Mord an den Juden war das furchtbarste Verbrechen, das jemals stattgefunden hat. Auch ich kämpfe gegen den Antisemitismus.”

Auf eine solche Einleitung war ich nicht gefasst gewesen. Jetzt war ich es, der Sartawi kennenlernen wollte. (Meine Mutter hat es zeitlebens abgelehnt – erst als er ermordet wurde, glaubte sie an seine Ehrlichkeit.)

…und einen israelischen Staat bejaht

Ursprünglich ein erfolgreicher Herzchirurg in den USA hatte Sartawi sich dem “Befreiungskampf” seines Volkes aus für mich nicht ganz ersichtlichen Gründen angeschlossen und war nach Palästina emigriert. Dort hatte er für die PLO eine der ersten Flugzeugentführungen zu organisiert. Doch als dabei durch den von ihm nicht vorhergesehenen Widerstand eines Sicherheits-Beamten ein Passagier ums Leben kam, hatte er seine Meinung um 180 Grad revidiert: Es müsse die Möglichkeit einer Versöhnung zwischen Juden und Palästinensern geben, und sie könne nur darin bestehen, dass die Palästinenser Israel anerkennen. Denn nach dem Holocaust müssten die Juden ihren eigenen Staat haben – sie besäßen ein aus der Verfolgung erwachsenes Recht darauf.

Eben dieses Recht auf einen eigenen Staat hätten freilich auch die Palästinenser: Auch sie seien ein Volk ohne Staat, das unter Verfolgung litte: Die Engländer hatten ihr Gebiet besetzt, statt dort ihren Staat entstehen zu lassen; in Jordanien, wo sie 80 Prozent der Bevölkerung stellten, stünden sie unter der Herrschaft eines Haschemiten-Königs, dessen Stamm nur 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht.

“Unsere jordanischen Brüder haben mehr von uns umgebracht als die Israelis” war einer seiner überraschenden Aussprüche, mit dem er Bezug auf den Versuch seines Volkes nahm, einen Teil des Jordanischen Königreichs an sich zu reißen, der damit endete, dass nicht wenige Palästinenser vor der Verfolgung durch Truppen des Jordanischen Königs nach Israel flohen.

(Für mich bleibt bis heute schwer verständlich, dass die “westliche Welt” so vergleichsweise wenig Druck auf Jordanien ausgeübt hat, dort einen “Palästinenserstaat” zu akzeptieren – er wäre dort logischer als im Westjordanland oder gar im Gaza-Streifen gewesen. Nur unter Ronald Reagan gab es kurz eine diesbezügliche Idee.)

Die Friedensvision eines Phantasten

Nachdem er meine Vorstellung eines PLO-Politikers, die bis dahin von Jassir Arafat geprägt gewesen war und mich mit gründlichem Misstrauen erfüllt und auf diese Weise ordentlich durcheinander gerüttelt hatte, entwickelte er mir seine Vision von einer israelisch-palästinensischen Zukunft: Israelis und Palästinenser, so phantasierte er, wären die beiden begabtesten, europäischsten Völker im nahen Osten. Sie wären daher prädestiniert, wirtschaftlich erfolgreiche, demokratische Rechtsstaaten zu schaffen. Miteinander befreundet könnten sie den demokratischen, rechtsstaatlichen Nukleus für die Entwicklung der arabischen Welt bilden.

Jerusalem sollte als internationale Stadt beider Hauptstadt sein.

Als ich das hörte, begriff ich plötzlich Bruno Kreiskys Begeisterung für die Zweistaatenlösung, nur dass ich in meiner grenzenlosen Naivität ein gutes Stück weiter ging: “Dann könnten Juden und Palästinenser doch gleich einen gemeinsamen Staat mit Jerusalem als Hauptstadt bilden.”

“Das geht nicht”, antwortete Sartawi, der meine Naivität nicht teilte, “in einem gemeinsamen Staat wären wir durch unsere größere Fruchtbarkeit bald die Mehrheit. Deshalb verstehe ich, dass die Juden ihren eigenen jüdischen Staat haben müssen.”

Ich hätte gerne widersprochen, denn ich wollte es nicht verstehen. Wenn beide Völker tatsächlich Rechtsaat und Demokratie bejahten (was bei der PLO so wenig wie bei der Hamas der Fall war, in unseren Phantastereien aber keine Rolle spielte), schien mir das eine viel wichtigere Gemeinsamkeit als ihre Trennung durch die unterschiedliche Religion. Aber obwohl wir sowieso beide fantasierten, unterließ ich den Widerspruch: Ich weiß, dass fast niemand mein Unverständnis für die Wichtigkeit religiöser Überzeugungen teilt.

Dafür konnte er nur ermordet werden

Leider sollte das Gespräch, das wir dazu führten unser letztes sein. Sartawi verteidigte seine Forderung nach der Anerkennung Israels als Voraussetzung für einen palästinensischen Staat auch auf dem palästinensisch arabischen Gipfel des Jahres 1982, bei dem ein Friedensplan Ronald Reagans diskutiert wurde, der diese Anerkennung zur Voraussetzung hatte. Doch die Mehrheit der eigenen Leute entzog ihm das Wort.

Am 10. März 1983 erschossen ihn bis heute nicht eindeutig identifizierte Attentäter, als er in Portugal sein Hotel verließ. (Er hatte mich immer gewarnt, ihn in der Öffentlichkeit zu begleiten, denn Attentäter würden auf Personen, die neben ihm gingen, keine Rücksicht nehmen – ich hatte das immer als leise Wichtigmacherei empfunden. Ich hatte eben wirklich keine Ahnung von der arabischen Welt.)

Der Palästinenserstaat ist tot

Heute ist Sartawis Traum so irreal wie nie zuvor. Die Idee eines eigenen Palästinenserstaates ist tot, schrieb ich an dieser Stelle schon vor Monaten, als Donald Trump sich erstmals dazu äußerte. Die derzeit von Israel besetzen Gebiete, die der Friedensplan von Oslo dafür vorsieht, sind derart zerstückelt, dass er schon rein praktisch, wirtschaftlich, nicht lebensfähig wäre. Die darin errichteten israelischen Siedlungen sind viel zu umfangreich, um jemals geräumt zu werden. Benjamin Netanjahu denkt auch gar nicht daran, sie zu räumen und ich glaube, dass er auch nicht daran denkt, die besetzten Gebiete je wieder herzugeben. Ganz im Sinne der Religiösen, die die Siedlungen bewohnen, ist “Eretz Israel”, das biblische Israel im entstehen. Dass Donald Trump dem seinen Segen gibt, befördert es – doch auch ein anderer amerikanischer Präsident hielte es nicht mehr auf.

Nur hätte er – und ein anderer israelischer Präsident- vielleicht eine andere Vision für eine ferne Zukunft: Dass in diesem um das Westjordanland und den Gaza-Streifen vergrößerten Israel bzw. in seiner Hauptstadt Jerusalem eine erstaunlich große Zahl von Palästinensern das Leben gleichberechtigter Bürger führte.

Ein Leben, das jedenfalls sehr viel besser als ihr derzeitiges Vegetieren in einem lebensunfähigen Gebilde und das Laufen gegen Grenzzäune wäre.

PS: Aus diesem Anlass ein Kulturtipp: Im Wiener Skala-Theater (Theater des Fürchtens) läuft eine sensationelle Aufführung von Fritz Hochwälders Drama “Donadieu”, in dem es darum geht, dass ein Fürst der protestantischen Hugenotten, sich um des Friedens Willen nach furchtbaren Massakern auf beiden Seiten dem katholischen König Frankreichs unterwirft, obwohl er größten Grund zu persönlicher Rache hat. Ein atemberaubendes Stück eines zu Unrecht vernachlässigten großen österreichischen Dramatikers in einer atemberaubenden Inszenierung (Bruno Max) mit einem atemberaubenden Hauptdarsteller (Clemens Aap Lindenberg). Man konnte eindreiviertel Stunden lang eine Stecknadel fallen hören.

 

 

7 Kommentare

  1. Bisher 60 unbewaffnete Demonstranten im Gaza Streifen von der israelischen Agressions Armee getötet !Wann treten endlich harte Sanktionen gegen den Judenstaat in Kraft ?

  2. Alles ganz hoffnungslos:
    “Der Gazastreifen hatte 2017 eine Bevölkerungszahl von rund 1,8 Millionen Menschen.”
    “Über die Hälfte der Bevölkerung ist unter 15 Jahre alt, und die Bevölkerungszahl verdoppelt sich bei der derzeitigen Wachstumsrate etwa alle 15 bis 20 Jahre.” (Zitate aus Wikipedia.)

    Diese Verhältnisse bedeuten in aller Regel Krieg, egal ob es eine jüdische Bevölkerung im Nahen Osten gibt oder nicht.

  3. Ich gratuliere zur “Naivität”. Ich nenne das lieber den “Möglichkeitssinn”, den nur wenige haben. Das macht auch Sinn: In der Evolution haben sich, vermute ich, die menschlichen Eigenschaften ungleich unter den Menschen verteilt, weil das Leben so spannender ist, und erfolgreicher im Entwickeln des Neuen.

    Männer und Frauen wie Issam Sartawi sind für mich Leuchtsterne am Himmel.

    Was für ein grandioser, mutiger Denker. Man sollte halt immer wissen: die meisten Menschen können kühnen Ideen oder Schlussfolgerungen gedanklich nicht (schnell genug) folgen, weil sie (kein Vorwurf) dem Status quo so verbunden sind, dass ihnen die Schwerelosigkeit dazu fehlt. (Das hat andererseits auch Vorteile – man fällt nicht auf jeden gut klingenden, mitreißend vorgetragenen Schwachsinn herein.) Dieser Mann hat so viel verstanden und vorhergesehen … Danke, ich habe von ihm noch nichts gewusst.

  4. Es ist schon eigenartig, warum gerade dort, wo “Gott” seine Wurzeln hat, nie Frieden war und wahrscheinlich auch auch nie Frieden sein wird.

    Schöpfungsgeschichte – 6. Tag:
    ” … Dann sagte Gott: „Jetzt will ich noch etwas erschaffen, das mir ähnlich ist. Ich will Menschen machen. Und er erschuf den Menschen nach seinem Bild – einem Mann und eine Frau. Gott freute sich über die Menschen…. Gott sah alles an, was er geschaffen hatte und er sah: Es war alles sehr gut.”

  5. Über der Stadt lacht das Sonnenlicht,
    doch die Gesichter der Menschen, die lachen nicht,
    denn es gibt andere Dinge, worüber man spricht
    In Jerusalem.

    Damals wie heute

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