Der Brexit muss England nicht schwächen

Es kann durchaus auch positiv sein, sich von der Wirtschaftspolitik der Europäischen Union abzukoppeln.

Die EU hat den Brexit wie erwartet einstimmig abgesegnet. Ob die britische Regierung ihm ebenfalls zustimmt, kann niemand vorhersagen: Die Vernunft spräche dafür, aber Boris Johnson spricht dagegen – er ist die fleischgewordene Unvernunft und Verantwortungslosigkeit.

Dass diese Sorte Politiker allenthalben, selbst im Mutterland der Demokratie England oder ihrer einstigen Schutzmacht USA hochkommt, werden spätere Generationen als eine der Folgen des Neoliberalismus begreifen: Er hat wirtschaftlichen Zustände geschaffen beziehungsweise als “marktkonform” zugelassen, bei denen eine kleine Schicht immer Reicherer wie im Feudalismus einer immer größeren Schicht “Abgehängter” gegenübersteht, deren ganze Existenzangst und Wut nach Revolte schreit und sich auf die Konkurrenz durch “Ausländer” konzentriert. Das aber lässt in allen Parteien Politiker hochkommen, die versprechen, die herrschenden Verhältnisse über Bord zu werfen und Ausländer abzuwehren. Ob unmittelbar wie Nigel Farage, der als Führer der UKIP die Abwehr der “Ausländerflut” versprach, oder mittelbar, wie Boris Johnson, dessen Haupt- Vorstellung von der Zukunft darin besteht, dass er mittels seines Eintretens für den Brexit Premierminister werden kann. Das Versprechen, das sie alle, Farage, Johnson, Marin Le Pen, Matteo Salvini, H.C. Strache oder Donald Trump mit solchem Erfolg abgeben, ist so einfach wie es gleich ist: Wie beseitigen alles, was war und “Inländer first”.

Denn das lässt die Abgehängten hoffen.

Worin die realen Probleme der Wirtschaft ihrer Länder liegen, begreifen sie manchmal, wie Trump oder Salvini in bestimmten Details, (wenn auch meist innerhalb eines neoliberalen Spielraums) und manchmal, wie Johnson oder Strache, in keiner Weise – doch sie sind immer nur Mittel zum Gewinn der Macht.

Die realen wirtschaftlichen Probleme des United Kingdom (UK) sind in erster Linie, dass es seine traditionelle Wirtschaft – fast bin ich geneigt zu schreiben, seine “Realwirtschaft” – immer mehr vernachlässigt hat, um sich in übergroßem Ausmaß der Finanzwirtschaft – fast bin ich geneigt, sie “virtuelle Wirtschaft” zu nennen- zu verschreiben. Sein hohes reales BIP pro Kopf von 50.143 USD im Vorkrisenjahr 2007 (Deutschland 45.699 USD) basiert weit voran auf seiner riesigen, hochspezialisierten Finanzindustrie (die nicht zuletzt mit beträchtlichen Steuerschlupflöchern aufwartet), während einem sonst bei der Fahrt durchs Land zwar die unverändert hervorragenden Universitäten, aber auch die vielen Industriefriedhöfe auffallen.

Der Absturz auf Grund der Finanzkrise war für die von ihrer Finanzindustrie derart abhängigen Briten daher ein besonders heftiger: Pro Kopf ist das reale BIP bis 2009 um fast ein Viertel auf 38.262 USD abgestürzt.

Bis 2001 hatte es sich auf 41.412 USD erholt und da das UK kluger Weise die Teilnahme am Spar-Pakt verweigerte, ging die Erholung bis 2014 kräftig auf 46.738 USD weiter, um dann freilich neuerlich einzubrechen, nachdem die Regierung der Volksabstimmung über einen Brexit zugestimmt hatte, die im Juni 2016 tatsächlich mit dem Sieg der Austrittsbefürworter endete, weil voran junge Briten gar nicht zur Wahl gegangen waren. Prompt sackte es dank Brexit auf 39.720 USD im Jahr 2017ab und lag damit nur 1500 $ über seinem Tiefpunkt.

Allerdings – und das sollte den Anhängern des Spar -Paktes und der Lohnzurückhaltung genau so zu denken geben, wie den Brexit Kritikern, wird es 2018 schon wieder bei 46.738 Dollar liegen, nachdem die auf Brexit eingestellte Regierung Theresa Mays unter ihrem neuen Schatzkanzler Philip Anthony Hammond die endgültige Abkehr vom EU-deutschen Sparen, die Rückkehr zu staatlichen Investitionen und deutlich höhere Mindestlöhne verkündet hat.

Der von der EU offerierte weiche Brexit sollte diese gute Entwicklung jedenfalls nicht behindern, wenn nicht befördern. Seine wesentlichen Bedingungen besagen, dass die Scheidung schmerzlos verläuft: Die Briten bezahlen ihre Schulden von rund 45 Milliarden Euro. Die Rechte der drei Millionen EU-Bürger, die in Großbritannien leben, bleiben gewahrt. Wirtschaftlich ändert sich in einer Übergangsphase bis 2020, die jedenfalls bis 2022 verlängert werden kann, gar nichts. Nur Nordirland – das ist bekanntlich der im UK strittigste Punkt- soll bis auf weiteres jedenfalls Mitglied der Zollunion der EU bleiben und auch andere EU- Bestimmungen weiter akzeptieren, damit es zu Irland keine harte Grenze gibt.

Darüber, wie sich die Beziehungen zwischen EU und “United Kingdom” nach dessen vollzogenem Austritt gestalten sollen, enthält der Vertrag nur eine kurze Absichtserklärung: freundschaftlich, zollfrei und frei von sonstigen Handelsbeschränkungen.

Für EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani ist klar, “dass es keine Vereinbarung geben kann, die besser ist, als eine Mitgliedschaft in der EU.” Brexit-Chef- Unterhändler Michel Barnier meint, dass es sich um eine Loose-Loose Vereinbarung handeln wird: beide Seiten, EU und UK würden verlieren. Die meisten deutschsprachigen Kommentatoren schreiben Ähnliches, sind aber überzeugt, dass Großbritannien mehr verliert.

Ich bin es nicht. Denn ich halte die EU-Wirtschaftspolitik derzeit für so ungeeignet, dass es auch ein Vorteil sein kann, sich von ihr abzukoppeln. Siehe Englands gelungene Abkoppelung vom Spar-Pakt und danach ganz allgemein vom staatlichen Sparen und siehe vor allem die künftige Möglichkeit der Briten, sich durch die Abwertung der eigenen Währung gegen eine dank “Lohnzurückhaltung” übermächtige deutsche Konkurrenz zu wehren.

 

 

Ein Kommentar

  1. Danke für die Hintergrunddetails, Zahlen, besonders der (virtuellen) Finanzwirtschaft und den straffen Überblick.

    Gefühlsmäßig allerdings “sehe” ich den Brexit noch immer nicht. Kann man wirklich, angesichts von immer mehr sicht- und spürbaren Fakten, eine neuerliche Abstimmung auf Dauer verhindern? Diese könnte gegen den Brexit ausgehen.

    Da ist wohl auch Wunschdenken dabei. Und die Hoffnung auf eine gemeinsame Weiterentwicklung der EU. Auf eine EU, die genug Spielraum lässt, aufeinander hört, voneinander lernt, Gesetze konsequent und mindest-menschlich durchsetzt und die keine Region zurücklässt.

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