Das Spiel der Briten mit der Geduld der EU

Alles – vom ungeregelten Brexit bis zum Verbleib in der EU- bleibt unverändert möglich. Darin sollte die EU eine Chance sehen.

Die Vorgänge in Großbritannien haben etwas Dadaistisches an sich. Es gibt im Unterhaus nur eine Überzeugung, die die überwältigenden Mehrheit der Angeordneten teilt: Dass man nämlich einen “harten”, ungeordneten Bereit dringend vermeiden muss – dennoch scheint sich das Land unaufhaltsam genau darauf zuzubewegen. In der Nacht auf Montag (bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe) verwarf das Unterhaus vier weitere Alternativen zum Scheidungsplan Theresa Mays, die durchwegs einen “weichen” Brexit mit weiterhin enger Bindung an die EU vorsahen. Allerdings fiel die Ablehnung sehr knapp aus und könnte sich, wenn Sie diesen Zeilen lesen, in Zustimmung für eine weitere, ähnliche Variante verkehrt haben. Nur dass Theresa May daran nicht gebunden ist und dass die Brexit -Fundamentalisten unter den Torys ihr schon erklärt haben, dass sie keine Lösung akzeptieren, die nicht volle Unabhängigkeit von der EU garantiert – während die andere Hälfte der Konservativen ebenso eindeutig den Verbleib in der EU vorzieht. Denn obwohl die EU, voran die Eurozone derzeit kein wirtschaftliches Erfolgsmodell mehr ist, ist das “United Kingdom” mit seiner Mitgliedschaft gut gefahren: indem es das Pfund beibehalten hat, hat es, anders als etwa Frankreich, seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber Deutschland erhalten und darüber hinaus den kontraproduktiven Sparpakt vermieden. Gleichzeitig hat es vom “Britenrabatt” profitiert und seine Geldindustrie – die mit Abstand stärkste seiner Industrien- hat im Wege der Steueroasen der City of London stets blendend an der EU verdient.

Großbritannien hat den derzeit wahrscheinlich geringsten Grund, die EU zu verlassen- und viele gute Gründe, wenigstens in möglichst enger Verbindung mit ihr zu bleiben. Der aktuelle Scheidungsvertrag kommt diesem Bedürfnis insofern entgegen, als es in einer Zollunion mit ihr verbliebe. Aber die EU-Anhänger innerhalb der Torys bemängeln an dieser Lösung, dass sie nur auf Zeit vorgesehen ist, während die Brexitiers genau umgekehrt bemängeln, dass aus diesem Provisorium ein Dauerzustand werden könnte. Gemeinsam bemängeln sie, dass sie einer Zollunion angehörten, auf deren Entscheidung sie keinen Einfluss mehr hätten.

Deshalb glaube ich eher nicht, dass Theresa May ihren Scheidungsvertrag beim vierten Anlauf – den sie wohl nehmen dürfte- doch noch durchbringt. Obwohl man auch das in keiner Weise vorhersagen kann: Es kann auch sein, dass die Brexitiers solche Angst davor haben, dass der Brexit womöglich völlig unterbleibt, dass sie ihm am Ende doch zustimmen. (bei einer der Probeabstimmungen hat ihm Boris Johnson deshalb zugestimmt.) Dann ist dieser Kommentar überholt.

Ich riskiere aber, auch im Fall ihres neuerlichen Scheiterns auf einen Sieg der Vernunft zu hoffen. Obwohl die EU den Briten für ihre Entscheidung kurze Fristen gesetzt und Bedingungen an ihre Verlängerung geknüpft hat, glaube (hoffe) ich, dass es Donald Tusk als Ratspräsident gelänge, ihnen sehr wohl eine längere Nachdenkpause einzuräumen. In der triumphierenden Berichterstattung vieler kontinentaler Medien über die angeblichen und tatsächlichen Probleme, die sich Großbritannien durch den Brexit eingehandelt hat, droht nämlich unterzugehen, welch dramatische Schwächung der EU es bedeutet, wenn Großbritannien ihr nicht wenigstens sehr eng verbunden bleibt: Die achtzehn kleinsten EU-Volkswirtschaften haben gemeinsam nur gerade die Wirtschaftskraft des “United Kingdom”, und kein Mitglied hat entfernt seine militärische Schlagkraft. Umgekehrt werden die wirtschaftlichen Probleme des “Kingdom” durch den drohenden Austritt unverändert übertrieben: Selbst 2018 hat es sich ökonomisch besser als die Eurozone entwickelt, obwohl die Ungewissheit des Brexit sein Wirtschaftswachstum zweifellos beeinträchtigt hat. Davor hat es Frankreich und Italien, mit deren BIP pro Kopf es 2009 so gut wie gleichauf lag, deutlich überholt. Das Kingdom macht zwar auf absehbare Zeit zweifellos einen Fehler, indem es diese komfortable Position innerhalb der EU aufgibt – aber die EU machte einen mindestens so großen Fehler, wenn sie den Briten nicht jede Menge Zeit einräumte, die Form ihres Austritts zu überdenken.

Bei der Probeabstimmung am Montag sind zwei Varianten nur sehr knapp – mit 3 bzw. 21 Stimmen abgelehnt worden, die eine denkbar starke Anbindung an die EU vorsahen: Großbritannien sollte mit ihr in einer dauerhaften Zollunion neuer Art (einschließlich Mitsprache) oder sogar wie Norwegen auch über den Binnenmarkt verbunden bleiben. Auch eine dritte Variante scheiterte mit 12 Stimmen nur knapp: Sie sah vor, dass den Briten ein neuer mit der EU ausgehandelter Scheidungsvertrag als Alternative zum Verbleib zur Abstimmung vorgelegt werden sollte. Damit hätte man den Vorwurf, das Brexit-Referendum zu wiederholen auf elegante Weise umgangen.

Jedenfalls glaube ich, dass alle drei Möglichkeiten unbedingt ihre Chance verdienen und dass die EU verantwortungslos handelte, wenn sie sie nicht gewährte. Alle drei Varianten setzen freilich voraus. dass man den Barnier-Vertrag noch einmal aufschnürte und natürlich kann man sich ärgern in diesem Fall zwei Jahre umsonst verhandelt zu haben. Aber ich meine, dass solche Emotionen nicht zählen sollten. Es hat zwar einiges für sich, kein “Rosinen-Picken” zuzulassen, um anderen Mitgliedern der EU nicht womöglich Appetit auf ein ähnliches Arrangement zu machen – aber es scheint mir ein mindestens so großes Problem, den Briten jeden Appetit auf möglichst große Nähe zur EU zu nehmen.

 

5 Kommentare

  1. Der ganze EU-UK “Affenzirkus” führt in den Köpfen vieler Menschen in Europa nach einem Ruf nach einem “starken Mann”. Die kommenden EU-Wahlen werden bereits in diese Richtung zeigen.
    Nur wird es in der EU keinen “starken Mann” geben, der kommt / die kommen wieder in den Nationalstaaten, wenn es diese EU in dieser Form zerbröselt.

  2. ökonomisch ist der brexit unsinn, aber leider ist großbritannien so gespalten wie österreich bei der bundespräsidentenwahl – schauen sie sich die hasskommentare bei nigel farage & co an. niemand hat brexit ohne deal gewählt, es war immer die rede von einem deal mit der eu – leider wird jetzt ein anderes narrativ gepusht. abgesehen davon dass dieses ergebnis der unverbindlichen volksbefragung mit lügen, betrug und manipulation erreicht wurde – leider gibts nur berichte im guardian dazu, auf phoenix lief eine interessante doku, aber sonst wird dieses thema nicht breitgetreten.
    ich denke, dass die anbindung mittels zollunion 2 der 3 großen streitfragen löst und als vernünftiger kompromiss angesehen werden kann, zumal die probeabstimmung mit 273:276 denkbar knapp, noch dazu als vorschlag eines tory, ausgegangen ist. übrigens hat er in seiner rede auch auf verhandlungsdauer, komplexität sowie bedingungen von handelsverträgen hingewiesen, die für gb durchaus weniger vorteilhaft als für die eu sein können. somit könnte sich großbritanniens souveränität bei abschluss v. handelsabkommen als danaaergeschenk des brexit herusstellen 🙂

    1. Ich glaube, die Schweiz beweist andauernd, dass Volksabstimmungen auch über komplexe Themen erfolgreich abgehalten werden können. Der Wähler erhält eine ausführliche Unterlage, in der das jeweilige komplexe Thema beschrieben wird mit Betonung auf die relevanten Fakten. Und dann erhält der Wähler auch Stellungnahmen, die für eine Unterstützung oder Ablehnung argumentieren. Darüber hinaus kann es im Vorfeld der Wahl auch Informationsveranstaltungen geben.

      Angenommen das würde mit dem derzeit ausgehandelten Vertrag geschehen. Dann würden in der Unterlage die wesentlichen Eckpunkte des Vertrags erläutert werden. Und dann gäbe es Stellungnahmen seitens der Befürworter und seitens der Ablehner des Vertrags. Der Wähler hat dann die Wahl zwischen “Zustimmung” oder “harter Brexit”.

      Was nicht geht, ist, dass man ohne einen konkreten Deal Abstimmungen macht, sei es im Parlament oder via Volksabstimmung.

  3. Ich glaube, dass hier ein Reset von allen Seiten erforderlich ist. Der Status Quo ist einfach zu verfahren. Zu diesem Zweck sollten EU/UK eine lange Frist vereinbaren (beispielsweise bis Ende 2020) mit dem Ziel, noch einmal vor vorne anzufangen. Die Briten haben zwischenzeitlich dazugelernt und die EU – so meine ich – auch. Mit diesen neuen Erkenntnissen sollte ein neuer Vertrag verhandelt werden, auf britischer Seite unter Einbeziehung der Opposition. Dieser Vertrag sollte dann einer neuerlichen Volksabstimmung vorgelegt werden und zwar auf “Schweizer Art”: umfangreiche Informationen an die Wähler über Inhalt, pro’s und con’s des Vertrags, sodass die Wähler eine intelligente Entscheidung treffen können. Und dann sollte die Volksabstimmung entweder/oder sein: entweder Zustimmung zum Vertrag oder harter Brexit. Man könnte auch sagen, dass man 2 Volksabstimmungen hintereinander macht und wenn es danach unentschieden steht, dann kommt es in einer dritten zur endgültigen und unwiderruflichen Entscheidung.

    1. Sorry, das ist absolut nicht praktikabel – vorne und hinten nicht. Glauben Sie wirklich, dass mehr als 10% der Briten (und alle Nationen auf unserem Planeten) verstehen, worüber sie im Detail – mehrfach! – abstimmen (sollen)? Und wenn doch, bräuchten wir überhaupt keine Politiker, und kein Parlament mehr. Die “Wahlbeteiligung” würde wahrscheinlich auf unter 30% sinken, was auch nicht gerade “repräsentativ” wäre.

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