Tsipras büßt das Spar-Desaster der EU

Gebe Gott, dass Christine Lagarde aus der griechischen Tragödie etwas für die Bewältigung der Italien-Krise gelernt hat.

Alexis Tsipras, einst von den Griechen für seinen Widerstand gegen das Spar-Diktat gefeiert, dann von der EZB gezwungen, sich ihm doch zu unterwerfen, und von der “Troika” gezwungen, es maximal zu vollziehen, wurde krachend abgewählt, auch wenn Griechenlands Wirtschaft, wie neoliberale Wirtschaftsmedien lobend vermerken, zuletzt gewachsen ist.

Das soll den Eindruck erwecken, dass der Sparkurs letztlich doch richtig gewesen sei- doch das Gegenteil ist wahr.

Griechenlands reales BIP pro Kopf – das relativ beste Maß für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit – ist zwar seit seinem Tiefpunkt von 23.746 Dollar im Jahr 2013 um 10 Prozent auf 25.141 Dollar im Jahr 2018 gestiegen, doch es gibt keinen wirtschaftlichen Absturz, der nicht irgendwann einen Boden findet, von dem aus es wieder aufwärts geht. Aber selbst heute, zehn Jahre nach Ende der Finanzkrise, liegt Griechenlands BIP pro Kopf noch um ein volles Viertel unter den 32.073 Dollar des Jahres 2007. Und selbst die marginale Erholung der letzten fünf Jahre ist nicht dem Sparen zu danken, sondern resultiert, wie in Spanien, aus einem einzigartigen Tourismus Boom: Weil Terror die Sonne-Destinationen des Mittelmeers von der Türkei über Ägypten bis Tunesien leer fegte, profitierten Griechenland, Spanien und Portugal entsprechend massiv. Da Tourismus nicht weniger als 20 Prozent des griechischen BIP bedingt, hat er es zwingend erhöht, obwohl die industrielle Produktion weiter im Keller liegt. Weil Tourismus gleichzeitig extrem personalintensiv ist, gibt es auch einen Rückgang der Arbeitslosigkeit von 24,5 Prozent im Jahr 2017 auf jetzt 18,5 Prozent. Wie es wirklich um die Beschäftigung steht, mag man daran ermessen, dass seit 2009 mindestens 400.000 Griechen das Land auf der Suche nach Arbeit verlassen haben – wären sie noch zu Hause, so läge die Arbeitslosenrate weit über 25 Prozent.

Ob der neue liberale Regierungschef Kyriakos Mitsotakis Griechenlands Lage innerhalb des Sparpaktes zu verbessern vermag, wird davon abhängen, ob die EU auf seiner Einhaltung besteht. Seine Ankündigung, die Einkommenssteuern zu senken, könnte nämlich primär das Budget-Defizit über die erlaubte Grenze erhöhen, obwohl es sich dabei, wie in Italien, um eine höchst vernünftige Maßnahme handelt.

Vorerst gibt es jedenfalls kein eindrucksvolleres Beispiel für das totale Versagen des EU- Spar-Rezeptes (das in Wirklichkeit von Wolfgang Schäuble stammt) als das griechische Desaster. Es ist eine manipulative Meisterleistung, dass die EU dieses Fiasko ihrer Wirtschaftspolitik den Wirtschaftsjournalisten neoliberaler Medien dennoch als “erfolgreiche Sanierung” zu verkaufen vermag, weil Griechenland “sich wieder am Finanzmarkt refinanzieren kann” – was es immer gekonnt hätte, wenn EZB-Chef Mario Draghi sofort erklärt hätte, den Euro mit allen notwendigen Mitteln zu verteidigen, statt für Wochen zuzulassen, dass über eine Pleite Griechenlands und ein Ende des Euro spekuliert wurde.

Gegen diese Rettung des Euro stimmte damals innerhalb der EZB (ganz im Sinne Wolfgang Schäubles)der Chef der deutschen Bundesbank Jens Weidmann- deshalb meine Panik, als es im Verlauf des EU Sondergipfels so aussah, als sei er der Favorit für Draghis Nachfolge.

Doch man sollte keine Befürchtung bezüglich eines Gipfels formulieren, der bei Redaktionsschuss noch einen Tag fortgedauert hat. Meine in der Vorwoche hier geäußerte Sorge wurde Gott sei Dank durch die Entwicklung überholt: Ein Deutscher konnte den EZB- Top-Job nicht mehr bekommen, nachdem eine Deutsche – Ursula von der Leyen- doch noch als Kommissionspräsidentin nominiert worden war. Das degradierte die EU-Wahl zwar zur Farce: Von der Leyen kandidierte nicht und niemand kennt ihr EU-Verständnis, so dass unklar ist, ob das EU-Parlament ihrer Kür überhaupt zustimmt, fühlen sich viele seiner Mandatare doch ähnlich gefoppt wie die Wähler. Aber es hatte den Vorteil, dass die Französin Christine Lagarde statt Weidmanns an die Spitze der EZB gelangte.

Ihre Kür bietet zumindest die vage Chance, dass sich die Italien -Krise nicht zur griechischen Tragödie auswächst. Zwar war der IWF, dem sie bisher vorstand, Teil der Troika, die Griechenland kaputtsparte, aber Lagarde könnte daraus gelernt haben: 2017 bekannte die volkswirtschaftliche Abteilung des IWF unter ihrer Führung zwar gewunden, weil lang gehegte IWF- Positionen revidiert werden mussten, aber doch unmissverständlich ein, dass “Austerity” mehr Schaden als Nutzen (“more harm than good”) angerichtet hätte. Ich bin zwar nicht restlos sicher, dass die Juristin Lagarde ihre Ökonomen voll verstanden hat, denn im Frühjahr lobte sie Staaten, die “Puffer angespart” hätten, um einer Rezession zu begegnen, während ihre Ökonomen meinen, dass Sparen die Rezession befördert, aber es besteht die Hoffnung, dass sie sich mit ihnen berät, ehe sie bezüglich Italiens handelt.

Mario Draghi, der offenkundig aus vergangenen Fehlern gelernt hat, hat vor seinem Abschied jedenfalls versucht, Italien insofern Rückendeckung zu geben, als er erklärte, die EZB könnte – wenn auch in vorgegebenen Grenzen -ihre Anleihe-Käufe wieder aufnehmen, wenn die Konjunktur sich weiter eintrübte. Da sie sich sicher weiter eintrübt, bedeutet das, dass die EZB italienischen Banken wieder italienische Staatsanleihen abkaufen, sie also mit Geld versorgen wird. Dieser Ankündigung entspricht freilich noch kein EZB-Beschluss – der wird erst unter Lagarde zustande kommen müssen- aber es ist schwer vorstellbar, dass sie ihren Vorgänger Lügen straft.

 

7 Kommentare

  1. Es wäre schön, wenn Sie dieselbe Detailverliebtheit einmal dafür aufwenden würden, zu eruieren, wie es denn zu einer Staatsverschuldung von 170% des BIP kommen konnte. Wenn man von einer Verschuldung von etwa 70% vor wahrscheinlich etwa 15 Jahren ausgeht (ohne das genauer recherchiert zu haben), bedeutet es nichts anderes, als dass ihr 10%-iges Wirtschaftswachstum über etwa 10 Jahre eigentlich nur durch Schulden finanziert wurde Mit dem geborgten Geld haben die Griechen hohe Pensionen (teilweise an längst verstorbene Personen), niedere Steuern (bis gar keine Steuern für die Reeder) und viele Sozialprojekte finanziert, man könnte auch sagen, den Kredit verkonsumiert haben. Zukunftsinvestitionen, die soviel Ertrag/Steuern einbringen, dass man das investierte Kapital mit Zinsen wieder zurückzahlen könnte, waren da wenige dabei. Und viele EU-Fördergelder sind zusätzlich geflossen. So einfach ist es, alle zufrieden zu stellen und ein hohes Wirtschaftswachstum zu erzeugen. Man braucht nur Gläubiger, die einem dann das Geborgte schenken.

  2. Also das einem Politiker seine voll mündigen falschen Versprechungen auf den politischen Kopf fallen ist noch kein Beleg dafür das die Sparmaßnahmen falsch waren.
    Irland, Portugal und Spanien sind der von Lingens abgelehnten Sanierungspolitik gefolgt und haben damit Erfolg gehabt.
    Im übrigens hat der Lingens Keynes nicht im geringsten verstanden – denn der hat Defizitspending keinesfalls als eine permanente “Dauer Lösung” verstanden sonder als ein als eine Massnahme bei Konjunktureinbrüchen – welche bei Konjunktur Aufschwung mit Rückführung der Schulden verbunden ist.
    Gibt es alles beim Lingens nicht – da ist der Schuldenanstieg eine Dauer Einrichtung auch bei Vollkonjunktur.
    Übrigens bei den Griechen wars die auf Pump finanzierte Konjunktur ohne Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz die zur Unfinanzierung des Staates geführt hat und all positiven Massnahmen z.B. Grundbuch, Steuerreform etc.sind nur auf Druck der EU erfolgt.

    Wenn man dem Lingens gefolgt wäre läge die Staatsverschuldung in Griechenland bei 200% des Sozialproduktes und es wäre zu eine dauerhaften Finanzierung durch die EU gekommen – dagegen kann sich Griechenland inzwischen wieder am Finanzmarkt finanzieren.

    Mir ist es unverständlich wie ein ehemals so guter Journalist wie der Lingens heute so undifferenziert und faktenfern die immer gleiche Platte auflegt!

  3. Die ersten beiden Worte freuen mich (Christ, undogmatisch), zu hören von jemand, der an anderer Stelle “Christus – wer immer das gewesen sein mag” geschrieben hat. (Eine Fußnote mit einem Lächeln.)

    Faszinierend ist hier (immer) die Darstellung der wirtschaftlichen Zusammenhänge. Der Zusammenhang mit den Aussagen Mario Draghis erscheint vollkommen nachvollziehbar, illustriert von der jeweiligen Entwicklung in Griechenland und Italien. Der Starke (in diesem Fall: Deutschland) gestaltet seine Situation – bei Defizitgrenzen und Lohnzurückhaltung-, wie sie für ihn am besten ist. (Soweit so gut, doch dann:) Und die Auswirkungen auf andere? Das gehört nicht hierher …

    Dieses Schauspiel kann man überall beobachten, auch im persönlichen Leben. Dort kann man auch sehen, dass ein gewisser Ausgleich – der oder die Starke kann viel bewirken, wird also gebraucht – für alle gut sein kann. ALLE haben es dann besser.

  4. Dieser Text könnte aus der Feder von Yanis Varoufakis stammen, was ihn allerdings nicht richtiger macht (deswegen mein langer Kommentar). Die Schlussfolgerung “vorerst gibt es jedenfalls kein eindrucksvolleres Beispiel für das totale Versagen des EU-Spar-Rezeptes als das griechische Desaster” ist gerade deshalb gefährlich, weil sie einen gewissen Wahrheitsgehalt hat. Ja, das EU-Spar-Rezept war zwar richtig in der Konzeption, aber mit großen Fehlern in der Umsetzung behaftet. Eine zutreffendere Schlussfolgerung könnte folgendermaßen lauten:

    “Es gibt kein eindrucksvolleres Beispiel für das totale Staatsversagen eines OECD-Mitgliedslandes als Griechenland von 1981-2010. Im Jahr 1980 (im letzten Jahr, bevor der ‘griechische Wahnsinn’ begann) hatte Griechenland nahezu Vollbeschäftigung, ein Defizit deutlich unter 3% und eine Staatsverschuldung (größtenteils in griechischen Händen) von 28%. Die Zerstörung der griechischen Wirtschaft begann mit Andreas Papandreou und seiner sozialistischen PASOK 1981 und endete mit Kostas Karamanlis und seiner konservativen ND, unter deren Regierung von 2004-09 sowohl der öffentliche Sektor als auch der Privatsektor völlig außer Kontrolle gerieten. Eine schmerzfreiere Lösung als das EU-Spar-Rezept hätte es 2010 und danach sicherlich gegeben, aber eine schmerzfreie sicherlich nicht.”

    Der Hauptvorwurf, den man der EU machen muss, ist, dass sie in Wirklichkeit nur ein Ziel verfolgte, nämlich den Euro zu retten (und man nannte es “Hilfestellung für Griechenland”). Wären 2010 die griechischen Staatsschulden zur Gänze in griechischem Besitz gewesen, hätte es viel weniger Aufregung zwischen Paris, Brüssel, Frankfurt und Berlin gegeben.

    Eine echte “Hilfestellung für Griechenland” wäre an einer brutalen Eindämmung/Sanierung des öffentlichen Sektors nicht vorbeigekommen, ABER: man hätte das Zu-Tode-Sparen auf der einen Seite zumindest teilweise kompensiert mit Wachstumsmaßnahmen auf der anderen. Allerdings Wachstumsmaßnahmen außerhalb staatlicher Kontrolle.

    Tsipras ist m. E. nicht primär wegen des EU-Spar-Rezeptes abgewählt worden. Das hätten ihm die Wähler verzeihen können, glaube ich, wenn er seine anderen Versprechen gehalten hätte, so z. B.: eine neue, “saubere” Politik, eine Demokratisierung der Gesellschaft, einen Bruch mit der korrupten Gebarung der Vergangenheit, etc. Stattdessen fiel Tsipras in das gleiche Verhaltensmuster wie seine Vorgänger, teilweise sogar noch schlimmer: extreme Vetternwirtschaft, Intervention im Justizapparat und in den Medien, gefährliche Eingriffe in die Pressefreiheit, der Aufbau einer neuen SYRIZA-freundlichen Oligarchie bestehend aus teilweise sehr fragwürdigen Oligarchen, etc. Es ist befremdlich, dass sich die EU nie zu diesen Vergehen von Tsipras geäußert hat. Jene Progressiven, die andauernd Orban & Co. angreifen, hätten in Tsipras ein ebenso würdiges Angriffsziel erkennen müssen.

    Tsipras wurde nicht von Wählern ‘in die Wüste geschickt’. Gegenüber ihrem Höchstwert von 36% 2015 erzielte SYRIZA diesmal 31%. Sicherlich ein Verlust, aber keine Demontage. Wenn man zu diesen 31% die knapp 4% von Yanis Varoufakis hinzuzählt (schließlich war er 2015 Teil des SYRIZA-Teams), dann ist der 2019 Wähleranteil gegenüber dem 2015 Höchstwert kaum gesunken. Die Wähler, die 2015 SYRIZA (inkl. Varoufakis) gewählt hatten, sind SYRIZA und Varoufakis 2019 über weite Strecken treu geblieben. Was Tsipras nicht schaffte, war, neues Vertrauen zu gewinnen, weil ihm viele Griechen, die 2015 Tsipras zwar nicht wählten, aber seinem erfrischenden und scheinbar ehrlichen Auftreten etwas abgewinnen konnten, ihm diesmal einfach nicht mehr vertrauten.

    Abschließend noch ein Kommentar zu den vielen Reformen, die Griechenland seit 2010 angeblich stark reformiert und gestärkt haben. Bei sämtlichen Rankings ist Griechenland nach wie vor der unattraktivste Wirtschaftsstandort in der EU (z. B. World Bank Doing Business Report) und das Land mit der höchsten Korruption in der EU (Transparency International). Weder ein EU-Spar-Rezept noch ein FDR-artiges New Deal werden ein solches Land voranbringen. Da sind schon andere Maßnahmen erforderlich. Ich finde es befremdlich, dass Kommentatoren dies immer außer Acht lassen.

    Ebenso befremdlich finde ich die immer wieder gemachten jetzt/vorher Vergleiche des GDP bzw. GDP per capita. Natürlich sind die Werte heute wesentlich geringer als vor der Krise, die Frage ist aber, in wieweit die Vor-Krisen-Werte sinnvolle Referenzgrößen sind. Von 2001-2010 flossen im Jahresdurchschnitt 30 Mrd.EUR Nettoschulden nach Griechenland. Dazu kamen noch ca. 50 Mrd.EUR an EU-Förderungen. Bei solchen Kapitalzuflüssen in eine Volkswirtschaft von der Größe Griechenlands (ca. 200 Mrd.EUR im Jahresdurchschnitt der 00er Jahre) ergibt sich ein völlig verzerrtes Bild beim GDP.

    Griechenland ist ein sehr guter Beweis, dass Deficit Spending seine Grenzen hat, wo es nicht mehr funktioniert. Die Regierung Karamanlis/ND (2004-09) versuchte mit aller Gewalt, durch maßlose Ausgaben Wachstum und Beschäftigung zu erhalten. Um eine Rezession zu vermeiden, erhöhte man 2008 das Defizit auf 10% des GDP (fast das Doppelte der Vorjahre). Es gab noch leichtes Wachstum. 2009 funktionierte der Trick dann nicht mehr: obwohl das Defizit sogar auf 15% erhöht wurde (!), sank das GDP und die Arbeitslosigkeit stieg.

    Der langen Rede kurzer Sinn: Benzin (Geld) erzeugt Flammen im Lagerfeuer (Wachstum), wenn aber aus den Flammen nachhaltiges Feuer und Glut werden soll, dann muß der Feuerhaufen gut gebaut und geschlichtet sein (Wirtschaftsstruktur). Wenn das nicht der Fall ist, dann hilft auf Dauer kein Benzin. Im Gegenteil, es schadet eher, weil es das vorhandene Holz sinnlos verbrennt.

    1. Wie sehr ich ihnen doch zustimme, Herr Kastner. Einen ähnlich langen und auch vom Inhalt vergleichbaren Kommentar habe ich zu P.M. Lingens “Italien” Artikel “Das nächste Griechenland droht” gepostet. Leider wurde dieser Kommentar nicht veröffentlicht.

  5. Schäubles Konzept einer linken Regierung keinen Erfolg zu gönnen, ist voll aufgegangen. Nachzulesen bei Yanis Varoufakis.

    1. Das “Konzept” von Herrn Varoufakis war es in Griechenland so weiter zu machen wie gehabt und es sich von der EU finanzieren zu lassen!

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