Es ist nicht unmoralisch, Erdogans Hilfe zu kaufen und Wirtschaftsflüchtlinge zurückzuweisen.
Recep Tayyip Erdoğan lässt letztes Genieren fallen: Jetzt hat er seinen Verfassungsgerichtshof zum „Feind der Türkei“ erklärt, weil der die Enthaftung von zwei Journalisten anordnete, deren Verbrechen es war, aufzudecken, dass der Geheimdienst Waffen an den sogenannten „IS“ lieferte. Man kann annehmen, dass er das Höchstgericht, ähnlich wie Polens Jarosław Kaczyński, demnächst entmachten wird – dann wird die Türkei endgültig aufgehört haben, ein Rechtsstaat zu sein. Pressefreiheit ist nach den ständigen Verhaftungen oppositioneller Journalisten und der Erstürmung und Übernahme der wichtigsten oppositionellen Zeitung und Nachrichtenagentur schon jetzt nicht mehr gegeben.
Und Erdoğans Verhalten zu den Kurden ist gespenstisch: Weil seiner Familie ein gewaltiger Korruptionsprozess droht, versetzt er laufend Staatsanwälte; weil er das nur kann, wenn er die absolute Mehrheit innehat, provozierte er blitzartig Neuwahlen, nachdem er sie durch den Erfolg der Kurdenpartei verloren hatte; zu diesem Zweck und um ausreichend hoch zu gewinnen, entflammte er den türkischen Nationalismus durch die Behauptung, dass die PKK den Waffenstillstand gebrochen hätte; er bombardierte neuerlich ihre Stellungen und führte damit die zu erwartenden Rachereaktionen herbei. Ihm ist zuzuschreiben, dass ein Krieg, der nach Jahrzehnten endlich beendet schien, neu entflammt ist und auch seine eigene Bevölkerung wieder unter Attentaten wie zuletzt in Ankara leidet.
Mit Recep Tayyip Erdoğan sollte man nach allen europäischen Wertmaßstäben nicht am selben Tisch sitzen.
Aber außenpolitische Erfolge sind nur möglich, indem man sich mit unmöglichen Männern an einen Tisch setzt: Friede in der Ukraine ist nur durch Verhandlung mit dem autoritären Krim-Aggressor Wladimir Putin möglich. Und Friede im syrischen Bürgerkrieg ist erst denkbar, seit man sich mit Putin, mit dem Massenmörder Bashir al Assad, mit den Autokraten aus Saudi-Arabien und dem iranischen Gottesstaat, mit diversen Terroristen sowie einmal mehr mit Recep Tayyip Erdoğan an einen Tisch setzt.
Was immer Moralisten einwenden mögen: Erdoğan ist unverzichtbar, wenn man den Flüchtlingsstrom in die EU unter Kontrolle bringen will. Denn die EU-Außengrenze, die zu diesem Zweck wieder eine wirkliche Grenze werden muss, ist nun einmal – noch dazu im Meer – die Grenze zur Türkei. Nur mit ihrer Hilfe kann man erreichen, dass im Wesentlichen nur die Flüchtlinge sie passieren, denen Asyl nicht abgeschlagen werden kann, wenn man Europas Werte ernst nimmt. Völkerrechtlich – ich wiederhole schon einmal Ausgeführtes – könnte man es sehr vielen Flüchtlingen abschlagen. Denn die Genfer Konvention nennt nur „Verfolgung“, nicht aber „Krieg“ als Asyl-Grund. Es ist unsere – dringend gebotene, aber freie – moralische Entscheidung, auch den Krieg in Syrien (im Irak und Afghanistan) als Asyl-Grund anzuerkennen.
Sebastian Kurz’ Behauptung, dass umso weniger Menschen ertrinken, je weniger sich überhaupt auf den Weg machen, ist zutreffend.
Not und Elend sind völkerrechtlich sicher kein Asyl-Grund. Ich habe zwar zeit meines Lebens in meine Wohnung auch „Wirtschaftsflüchtlinge“ aufgenommen, weil ich ihnen das angesichts des eigenen Wohlstandes zu schulden glaube, aber derzeit müssen Kriegsflüchtlinge – einfach aufgrund ihrer großen Zahl – eindeutigen Vorrang vor ihnen haben. Das Abkommen mit der Türkei ermöglicht diesen Vorrang.
So zynisch sie klingen mag, aber Sebastian Kurz’ Behauptung, dass umso weniger Menschen ertrinken, je weniger sich überhaupt auf den Weg machen, ist zutreffend. Und es machen sich – jedenfalls aus wirtschaftlichen Gründen – umso weniger Menschen auf den Weg, je klarer ist, dass sie die EU-Außengrenze nicht passieren und dann aufgrund der EU-Wegfreiheit weitermarschieren können. Ähnlich zutreffend ist, dass sich umso weniger Menschen auf den Weg machen, je weniger „Willkommen“ ihnen die Bleibe-Bedingungen signalisieren – so abträglich deren Verschärfung der Integration ist und so viel sympathischer mir selbstverständlicher Familiennachzug wäre. (Ich habe in meiner Wohnung fast durchwegs Familien aufgenommen).
Nur die von Tod und Verfolgung Bedrohten werden unter allen Umständen flüchten. Und wir können eben – ich wiederhole mich – leider nur sie aufnehmen: Denn sie alleine sind derzeit schon Abermillionen.
Es tut mir zwar leid, Wirtschaftsflüchtlinge zurückzuweisen – ich hoffe, dass man ihnen einen legalen Türspalt offen hält –, aber ich bin nicht bereit, mich für ein mithilfe der Türkei verschärftes Grenzregime zu genieren, das Wirtschaftsflüchtlinge davon abhält, den Weg nach Österreich (Deutschland, Schweden, Belgien) zu suchen.
Erst wenn wir Kriegsflüchtlingen die Tür nicht mehr öffneten, genierte ich mich.
Sehr wohl genieren muss sich Österreich für Idomeni. Sebastian Kurz wusste, welchen Menschenstau das auslösen musste – schließlich hat er ihn produziert. Den grauenhaften Zuständen wenigstens durch Zelte für Kranke und Sanitäranlagen vorzubeugen, wäre möglich und bezahlbar gewesen. Auch „hässliche Bilder“ zum Teil einer Abschreckungsstrategie zu machen, wäre obszön.