Scheitert die EU?

Ihr wirtschaftlicher Zusammenhalt wurde in Bratislava kaum gefestigt.


Bertolt Brechts „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ gilt nicht nur für die Bettler der „Dreigroschenoper“. Weil die Wirtschaft das „Fressen“ bereitstellt, ist sie das wichtigste Feld der Politik: Es sind die wirtschaftlich Abgehängten, die der FPÖ, der AfD oder dem Front National zum Höhenflug verhelfen; es sind ihre Ängste vor der Konkurrenz Zugewanderter, die die Flüchtlingsfrage so unlösbar machen; es ist die Summe dieser Ängste, die den Brexit provozierte.

Ob die EU scheitert, wie das mittlerweile selbst der Präsident ihres Parlaments Martin Schulz für möglich hält, wird daher nicht davon abhängen, ob ihre Konstruktion der großen Zahl der Mitglieder gewachsen ist, ob ihre Organe ausreichend demokratisch legitimiert sind oder ob sie das Subsidiaritätsprinzip ausreichend beachten (so wichtig alle diese Fragen zweifellos sind), sondern entscheidet sich an ihrer Fähigkeit, wirtschaftlichen Erfolg sicherzustellen. Und zwar nicht den Erfolg von Eliten, sondern den Erfolg „der größtmöglichen Zahl“ (Jeremy Bentham).

Derzeit bestimmen zwei Entwicklungen Europas Wirtschaft, und beide wurden vorige Woche – vorerst erfolglos – infrage gestellt.

Erstens: Obwohl Deutschland die leistungsfähigsten Produktionsanlagen besitzt, hat es seit Gerhard Schröder „Lohnzurückhaltung“ geübt. Das hat ihm unschlagbare Lohnstückkosten beschert, mit deren Hilfe es gegenüber allen anderen Industrienationen, voran Frankreich, große Marktanteile kaum reversibel hinzugewonnen hat. Gleichzeitig hat dieselbe Lohnzurückhaltung die Kaufkraft der deutschen Konsumenten stagnieren lassen, sodass die Exporte aller anderen Länder nach Deutschland mitstagnierten.

Seit Jahren weist Deutschland daher gigantische Leistungsbilanzüberschüsse auf und lässt sich dafür von seinen Wirtschaftsmedien – etwa der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ – als „Exportweltmeister“ feiern. Anderen Staaten empfehlen Merkel & Schäuble „Strukturreformen“, die sie vergleichbar fit machen sollen.

Dass es aus Gründen der Logik zu jedem Exporteur einen Importeur geben muss und das deutsche Rezept daher denkunmöglich allgemein funktionieren kann, will weder der „FAZ“ noch gar Wolfgang Schäuble einleuchten. Obwohl die meisten deutschen Arbeitnehmer nur sehr begrenzt vom Exportboom profitieren – sie bezahlen ihn ja mit ihren niedrigen Löhnen –, murren sie nicht. Denn sie erleben, dass es den Arbeitnehmern aller anderen Länder zwangsläufig schlechter als ihnen geht und halten Deutschlands Wirtschaftspolitik daher für „alternativlos“.

Obwohl Deutschlands Export auf Dauer unter der Verarmung aller anderen EU-Länder leidet – derzeit weist er sogar eine kräftige Delle auf –, sehen Merkel & Schäuble daher keinen Grund, ihre Politik zu ändern: Schäuble begrüßt zwar die jüngsten kräftigeren Lohnerhöhungen – aber sie müssten doppelt so groß sein, um Deutschlands Lohnstückkostenvorsprung auf ein EU-verträgliches Maß zu reduzieren. Der „FAZ“ gehen freilich schon die aktuellen Lohnerhöhungen zu weit. Es gibt in Deutschland niemanden, der begreift, dass gemeinsames Wirtschaften Lohndumping noch weniger verträgt als Steueroasen.

Es gibt in Deutschland niemanden, der begreift, dass gemeinsames Wirtschaften Lohndumping noch weniger verträgt als Steueroasen.

Gäbe es den Euro nicht, so sorgte der Markt für ein EU-verträglicheres Gleichgewicht: Die deutsche Währung wertete gegenüber allen anderen Währungen dramatisch auf, und Deutschlands Produkte verteuerten sich dramatisch. Aber es gibt den Euro, und so fallen alle konkurrierenden Industrieländer – voran die von vornherein am wenigsten konkurrenzfähigen des Südens – immer weiter hinter Deutschland zurück.

Vergangene Woche hat Nobelpreisträger Joseph Stiglitz Portugal und Griechenland daher geraten, die Eurozone – geordnet, aber dringend – zu verlassen. Noch hängen Portugiesen wie Griechen zu sehr am Euro, um ihm zu folgen.

Aber mit der Mehrheit der angelsächsischen Ökonomen glaube ich, dass sich das ändern wird: Der abgehängte „Süden“ – der bis Italien reichen könnte – wird den Euro-Austritt in Erwägung ziehen müssen.

Kürzlich haben die abgehängten Länder in Athen das zweite große Problem diskutiert: den Sparpakt. Ich habe hier schon x-Mal erklärt, warum es verfehlt ist, wenn in einer Zeit, in der der Konsum stagniert und Unternehmen deshalb kaum Erweiterungsinvestitionen tätigen, auch noch der Staat mit Investitionen (Einkäufen) spart.

Auch in Athen wurde diesbezüglich wieder heftig gemurrt – aber nicht revoltiert. Denn François Hollande kann sich nicht entscheiden, ob er Deutschland (vergeblich) kopieren oder doch grundsätzlich herausfordern soll: ihm mit dem Auseinanderbrechen des Euro drohen, um es zu einer Korrektur seiner Lohn- und Sparpolitik zu bewegen.

Er begnügte sich mit der beim EU-Gipfel in Bratislava beschlossenen Verdoppelung des Juncker-Fonds, obwohl sie das Wachstumsproblem der EU sicher nicht beseitigt.

In Summe glaube ich daher nicht, dass die EU einen Fortschritt bei der Lösung ihres zentralen – nämlich des wirtschaftlichen – Problems gemacht hat.

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