CETA ist nicht TTIP

Den größten Unterschied macht Kanadas Regierungschef Justin Trudeau aus.


Für die Gegner von CETA empfehle ich folgendes Gedankenexperiment: Gesetzt den Fall, Kanada läge in Europa – widersetzten sie sich dann wirklich der Aufnahme dieses Landes in die EU? Mit der Begründung, dass es die wirtschaftlichen Voraussetzungen nicht erfüllt? Dass es unseren Ansprüchen an Rechtssicherheit, Bürgerrechten oder Minderheitenschutz nicht genügt? Dass seine sozialen Standards europäisches Niveau nicht erreichen?

Riskierte Christian Kern in diesem Beispiel ernsthaft, die Aufnahme Kanadas mit seiner Stimme gegen die Stimmen aller anderen EU-Mitglieder zu torpedieren? Brächte ein Gewerkschafter mit Erfolg Einwände dagegen vor, dass Kanada mit seinen Produkten den europäischen Markt bereichert? Sorgte er sich vor Lohndumping, nachdem die EU Bulgarien oder Rumänien aufgenommen hat?

Ich behaupte, dass sich jeder vernünftige Mensch an den Kopf griffe, wenn die Mitgliedschaft Kanadas in der EU durch Österreich verhindert würde.

Obwohl sie Kanada weit mehr Möglichkeiten wirtschaftlicher Konkurrenz zu Österreich böte, als CETA das tut.

Ich habe in diesem Zusammenhang schon einmal geschrieben, dass man zwischen TTIP und CETA unterscheiden muss: Kanada ist nicht Amerika.

Der Vater des aktuellen Präsidenten Justin Trudeau, Pierre Trudeau, der bis 1984 Kanadas Präsident war, beschrieb den Unterschied so: „Neben den USA zu liegen ist so, wie neben einem Elefanten zu schlafen. Ganz gleich, wie freundlich und ausgeglichen das Biest ist, wenn ich es so nennen darf, man achtet auf jedes Zucken und Grunzen.“

Die schiere Größe und wirtschaftliche Potenz der USA machen jedes Abkommen mit ihnen zu einem entsprechend großen Risiko (wenn auch zu einer entsprechend größeren Chance.)

Dagegen hebt sich Wirtschaftskraft des 36 Millionen Einwohner-Landes Kanada in keiner Weise von der eines alten europäischen Industrielandes ab: 2015 lag das BIP pro Kopf bei 43.332 Dollar – nachdem es 2013 freilich noch 51.900 Dollar betragen hatte und damit das Niveau Österreichs erreichte.

Zwischen den beiden Zahlen liegt das Bemühen der konservativen kanadischen Regierung unter Präsident Stephen Haper, die Wirtschaft des Landes nach der Finanzkrise durch intensives Sparen zu sanieren.

Wohl in erster Linie, weil das noch so wenig wie in der EU gelang, verloren die Konservativen im November 2015 die Wahlen, und die Liberalen unter dem erst 44-jährigen Justin Trudeau wurden stärkste Kraft.

Seine bisherige wirtschaftliche Aktivität: Eine höhere Besteuerung sehr Reicher (Trudeau: „Die Mehrheit zahlt schon Steuern genug“) und die Inkaufnahme einer höheren Staatsverschuldung, um die unter Harper eingeschränkten staatlichen Investitionen neu zu beleben.

Voran die Grünen sollte sein Verhältnis zur Zuwanderung besonders interessieren.

Kern und seinen Sozialdemokraten wie Eva Glawischnig und ihren Grünen empfehle ich daher dringend, sich intensiver mit Justin Trudeau zu befassen. Denn er ist es, mit dessen Regierung die Endfassung von CETA verhandelt und vereinbart wurde. Und sich danach zu fragen, ob sie wirklich fürchten müssen, ausgerechnet von dieser Regierung unter diesem Mann über den Tisch gezogen zu werden.

Die Ministerien besetzte Trudeau paritätisch mit Frauen und Männern. Auf die Frage eines Journalisten, wieso er das tue, gab der ehemalige Lehrer (Absolvent eines Studiums der Literaturwissenschaften) zur Antwort: „Weil wir im Jahr 2015 leben.“

Voran die Grünen sollte auch sein Verhältnis zur Zuwanderung besonders interessieren.

So nahm er anlässlich eines Besuches bei Barack Obama, den er zu seinen Idolen zählt, in Washington mit folgenden Worten zur Flüchtlingsfrage Stellung: „In der Geschichte dieses und unseres Landes ging es immer um Menschen, die nach besseren Möglichkeiten für sich und Ihre Kinder strebten, indem sie Ozeane überwanden und ganz von vorne anfingen. Das ist noch nicht vorbei und wird so lange so sein, wie diese Länder existieren.“

Zu der Frage, ob man sich auf seine Aussagen verlassen kann, liefert die von ihm eingeleitete Flüchtlingspolitik Hinweise: Kanada erklärte sich zur sofortigen Aufnahme von 25.000 syrischen Flüchtlingen bereit. Die ersten von ihnen begrüßte Trudeau am Flughafen persönlich mit folgenden Worten: „Sie verlassen das Flugzeug als Flüchtling, aber wenn Sie aus dem Terminal hinausgehen, sind Sie dauerhafter Einwohner Kanadas mit einer Sozialversicherungsnummer mit Gesundheitskarte und der Chance, kanadischer Staatsbürger zu werden.“

Zusätzliche Hinweise zur Person: Lange vor seiner Präsidentschaft führte Trudeau eine Bürgerinitiative an, die sich gegen die Vergiftung der Flüsse eines Nationalparks durch eine Zink-Mine wehrte. Er setzt sich für die Entschädigung der indianischen Ureinwohner ein. Und er will Cannabis freigeben.

So also ist der Mann beschaffen, mit dem einen Freihandelsvertrag abzuschließen uns Grüne, Attac und diverse NGOs dringend warnen, und dessen Zusagen ernst zu nehmen Christian Kern lange überlegen muss.

PS.: Ein Kulturtipp: „Atem“ von Duncan Macmillan wird im Theater Drachengasse (1010 Wien, Fleischmarkt 22) zwar schon eine Weile mit Erfolg gespielt, hat aber durch die Neubesetzung der männlichen Titelrolle noch einmal an Intensität und Witz gewonnen. Sven Kaschte zelebriert mit Paola Aguilera ein Kammerschauspiel der Extraklasse.

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