Österreich begräbt eine Koalition, die seinen wirtschaftlichen Spitzenrang gesichert und zuletzt besonders viel weiter gebracht hat.
Seit Sebastian Kurz der rot-schwarzen Regierung Mitte Mai jede Fähigkeit effizienten Regierens abgesprochen hat, weil Meinungsumfragen ihm signalisierten, dass er durch Neuwahlen schon demnächst Kanzler sein kann, hat diese angeblich arbeitsunfähige Regierung folgende Gesetzesvorhaben einvernehmlich erledigt:
- Mit dem Schulautonomie-Paket wurde nach dem Beschluss zur universitären Ausbildung aller Lehrer und einem 750 Millionen-Budget für Ganztagsschulen das dritte von vier Elementen des finnischen Erfolgsmodells im Rahmen des Möglichen übernommen. (Das wesentlichste vierte – die massive Senkung der Klassenschülerzahl – schließt der Spar-Pakt aus)
- Der „Beschäftigungs-Bonus stellt zwei Milliarden Euro bereit, aus denen Unternehmen, die neue, zusätzliche Arbeitsplätze schaffen, für drei Jahre die Hälfte der Lohnnebenkosten ersetzt wird. Ein mit 100 Millionen dotiertes Programm prämiert zusätzliche Investitionen.
- Das Integrationspaket bringt für Flüchtlinge, die Asyl bereits erhalten haben oder vermutlich erhalten werden, ein „Integrationsjahr“, in dem sie zu Deutsch- und Wertekursen sowie gemeinnütziger Arbeit verpflichtet sind und Sozialleistungen gekürzt werden können, wenn sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen.
- Das „Sicherheitspaket“, das wie in Deutschland eine verstärkte Kameraüberwachung und Überwachung der Internet-Kommunikation am Telefon erlaubt ist auf Schiene.
- Zuletzt wurde auch noch der Pflegeregress abgeschafft.
Beinahe- Einigkeit läge auch bezüglich der extrem wichtigen automatischen Vermeidung der kalten Progression vor und würde zweifellos voll erzielt, wenn die Regierung weiter amtierte.
Der Einwand, dass die angeführten Vorhaben nur unter dem Druck das nahen Regierungs-Endes so rasch erledigt wurden, ist unberechtigt: Fast alles war schon zuvor beschlussreif.
Natürlich ist der Wirtschaftsstandort Österreich unter keiner rotschwarzen Regierung „abgesandelt“, wie das Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl suggerierte. Österreich hat die Weltwirtschaftskrise von 2008 vielmehr dank eines Maßnahmenpaketes, das voran die viel gescholtenen Sozialpartnerschaft schnürte, mit weniger Einbuße an Wirtschaftswachstum und Zuwachs an Staatsverschuldung als jedes andre vergleichbare EU-Land überstanden.
Erst das von der FPÖ grundgelegte und diversen VP-Finanzministern verschärfte Hypo-Alpe-Adria-Debakel hat die Staatsschuld – keineswegs gefährlich- erhöht. Und VP- Finanzminister Michael Spindelegger hat durch die hinausgeschobene Steuerreform die Wachstums-Delle von 2015 verschuldet. Aber seither wächst die Wirtschaft im „abgesandelten“ Österreich schon wieder stärker als selbst in Deutschland. Die Arbeitslosigkeit ist nur deshalb höher, weil die österreichische Bevölkerung durch die Aufnahme von relativ mehr Flüchtlingen wächst, während die deutsche bisher schrumpfte.
Wenn man von den Steueroasen Luxemburg und Irland absieht, besitzt Österreich mit einem BIP/Kopf von 39.990 € nach Holland vor Deutschland die leistungsfähigste Wirtschaft der Eurozone – und der Abstand zu Holland hat sich heuer neuerlich verringert.
Wie konnte es kommen, dass eine derart erfolgreiche Regierungskoalition dennoch derart in Misskredit geraten ist?
Voran weil, wie in allen entwickelten Ländern, eine wachsende Unterschicht trotz Wirtschaftswachstums Reallohneinbußen erlitt, während eine winzige Spitzen-Schicht unendlich viel reicher wurde. Von den USA übernommen, produziert dieses neoliberale Muster massiv gesteigerter Ungleichheit überall in Europa massiv gesteigerte Unzufriedenheit.
Der Rest ist hausgemacht: H.C. Strache ist es gelungen, jede Mitschuld der FPÖ an Hypo-Debakel, überteuerten Abfangjägern oder unter Wert verkaufter BUWOG von sich zu weisen und die beschriebene allgegenwärtige Unzufriedenheit der Regierung anzulasten. ÖVP-Wirtschafts-Funktionäre wie Christoph Leitl haben ihn in seinem Regierungs-Bashing maximal unterstützt- die ÖVP war mehr „Opposition“ als Grüne und NEOS zusammen.
ORF-Star Armin Wolf oder Profil- Herausgeber Christian Rainer bestreiten heftig, dass die Regierung auch schlecht geredet bzw. schlecht geschrieben wurde- ihre Aufgabe sei schließlich Regierungskontrolle. Das stimmt natürlich. Doch auch wer kontrolliert, hat zentralen Wirtschaftsdaten mehr Gewicht zuzumessen als lächerlichen Rankings und vor allem als dem Gezänk, das letztlich durchaus erfolgreiche Maßnahmen der Koalition immer begleitet hat, weil man glaubte, sich gegeneinander „profilieren“ zu müssen.
Ich weiß, dass Medienkonsumenten es schätzen, wenn man jedes zweite Interview mit der Frage beginnt, wann der „ewige Streit“ in der Regierung zu Neuwahlen führen wird, oder wenn man in jedem zweiten Text auflistet, was sie zu tun versäumt hat- aber es ist dem eben auch gegenüberzustellen und im internationalen Vergleich zu beurteilen, was ihr gelungen ist.
Ich möchte es an einem aktuellen Beispiel illustrieren: Alle Medien referieren die Kritik der Industriellenvereinigung und der Wirtschaftskammer an Österreichs „ausufernder Bürokratie“. Laut WKO-Statistik hat die rot-schwarze Koalition indessen trotz der föderalen Belastung durch neun Bundesländer und Zusatzaufgaben aus Brüssel die Zahl der Beamten zwischen 2005 und 2015 von 299.733 auf 212.410 reduziert und auch nicht durch „Staatsangestellte“ ersetzt. Denn laut OECD-Statistik besitzt Österreich mit der Schweiz und Deutschland mit jeweils nur knapp über 10 Prozent Staatsangestellten den schlanksten Staat der entwickelten Welt.
Aber wir schimpfen über ausufernde Bürokratie.
P.S.: ab sofort finden Sie meinen Blog kostenlos als App im Apple App Store und im Android Play Store. Einfach unter „Lingens“ aufrufen und App runter laden und Sie erhalten in Zukunft eine „push notification“ sobald ein neuer Beitrag erscheint.
4 Kommentare
Zum Thema Flüchtlinge, etwas off topic, aber symptomatisch:
Die Presse titelt – laut Ihnen s.g Hr. Lingens die „beste Tageszeitung Österreichs“ – heute 11.07.2017:
„23 Millionen Menschen weltweit bereiten Flucht oder Migration vor“.
Bis vor kurzem war noch von 50-60 Mio Flüchtlingen in allen Medien die Rede. Aber die Presse schreibt nicht von einem Rückgang – sondern gleich unter der Überschrift von „immer MEHR Menschen…“
Das halte ich nicht für objektiv. (auch wenn im Journalismus bloß „die derzeit am besten verfügbare Wahrheit“ gesucht wird)
In Zeitungen wie der Presse, Salzburger Nachrichten…werden groß die 200 Millionen für den Pflegeregress diskutiert. Aber die 25 Milliarden die uns jährlich in Österreich durch Steueroasen, Schattenbanken und große Firmen entgehen sind kein Thema.
25 Milliarden sind immerhin 125x mehr als 200 Millionen. Da ist, wie wenn ich einem Kellner beim Mittagsmenü 1 Euro Trinkgeld gebe – und dem anderen für dasselbe 125 Euro.
(mM als Neuer Selbständiger der hier Steuern & Abgaben zahlt. Und sich überlegt ob er nicht besser jeden Tag 5 Stunden in die Suche nach „legalen“ Steuertricks investiert – statt sinnvolle Arbeit zu leisten.
In Brighton, GB, habe sich kleine KMUs zusammengeschlossen und praktizieren die „legalen“ Steuertricks der großen Firmen. Aus Protest.
Arbeit wird hierzulande mit 52 Prozent besteuert – inklusive Arbeitgeberanteile & Abgaben. Eingangssteuersatz doppelt so hoch wie in D. Im Digitalen Zeitalter wird menschliche Arbeit bestraft)
2/3 der Österreicher sehen die drohende Massenimmigration als Gefahr und glaubt nicht daran, dass rot-schwarz in der alten Aufstellung dagegen etwas macht. Das hilft der FPÖ und Kurz und schadet den Grünen und auch der SPÖ (viele haben die Wiener Kamarilla satt)
Bürokratie kann auch mit weniger Beamten ausufern – das weiß jeder Kulturschaffender, jeder Wirt, jeder Trafikant.
Lieber Herr Lingens, danke für diese klaren Worte, welchen absolut beizupflichten ist. Ihrer Beiträge wegen habe ich „profil“ abonniert, der Beiträge Herrn Rainers wegen werde ich das Abonnement aufkündigen. Was Journalisten seines Schlages für einen Schaden anrichten scheint diesen gleichgültig zu sein. Die Rechnung werden wir voraussichtlich im Oktober präsentiert bekommen. Das einzig Positive daran könnte sein, dass die Parteistrukturen, vor allem die der ÖVP, nachhaltig verändert werden. Kurz ist jedoch kein Wunderwuzzi, das Format eines Dr. Schüssel wird er nie erreichen, erst recht nicht das eines umfassend erfahrenen und gebildeten Dr. Kreisky. Die Wahl wird aber ohnedies ein Anderer gewinnen und damit kehrt alles tatsächlich Schlechte wieder wie’s schon einmal war.