Das erste verpflichtende Kindergartenjahr krankt am akuten Mangel qualifizierten Personals. Wie soll dann erst das zweite verpflichtende Jahr funktionieren? Aber nur funktionierende Kindergärten werden Österreichs Schulen erfolgreicher machen
Österreichs größtes Zukunftsrisiko – das wird uns von PISA-Test zu PISA-Test vor Augen geführt – besteht zweifellos darin, dass ein Viertel der Jugendlichen, die in den letzten Jahrzehnten die Schule verlassen haben, nicht sinnerfassend lesen kann.
Das muss die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit dieser Generationen gefährlich beeinträchtigen.
Lesen lernt man nicht in der Hauptschule, der neuen Mittelschule oder einem Gymnasium – die alle wegen dieser Leseschwäche in der Kritik stehen- sondern in der Volksschule. Wenn dort, wie das in Wien der Fall ist, achtzig Prozent der Kinder aus Familien kommt, die Deutsch nicht als Muttersprache haben, ist das eine für diese Volksschule extrem schwierige Aufgabe.
Da alle Experten wissen, dass Sprache umso besser erlernt wird, je früher dieser Lernprozess einsetzt – zwischen zwei und sechs reagiert das Sprachzentrums des Gehirns wie ein Schwamm- besteht unter ihnen auch kein Zweifel, dass das Deutsch-Lernen schon im Kindergarten beginnen muss.
Das beschlossene verpflichtende erste Kindergartenjahr ist ein ungleich größerer Beitrag zu höherer Sprachkompetenz als etwa die Einführung der „Neuen Mittelschule“. Das zweite verpflichtende Kindergartenjahr wäre es in noch höherem Maße, weil der Sprachunterricht noch früher einsetzen könnte.
Doch soeben hat der Gemeindebund erklärt, dass die Einführung dieses zweiten Jahres unter den gegebenen budgetären Voraussetzungen nicht funktionieren kann, da schon das erste nur sehr begrenzt funktioniert.
„Die Gemeinden brauchten mindestens zusätzliche 100 Millionen €“
Ich kann diese Summe nicht beurteilen, aber selbst wenn es die doppelte wäre, wären diese Kosten lächerlich, wenn man sie am Nutzen eines zweiten Kindergartenjahres misst. Präziser formuliert: Der wirtschaftliche Nachteil, der Österreich aus fortdauernder Leseschwäche erwächst, wird Milliarden kosten.
Petra Stuiber hat im „Standard“ ausführlich beschrieben, wie der österreichische Kindergarten-Alltag derzeit aussieht: Es braucht größtes Glück, einen Kindergartenplatz in der Nähe zu bekommen. Bundesländer machen einander die raren ausgebildeten Pädagoginnen abspenstig, indem ihnen etwa Niederösterreich mehr als Wien (mit seinem ungleich größeren Bedarf) bezahlt. Der Personalmangel schafft eine enorme Fluktuation, obwohl gerade Kleinkinder größtmögliche Stabilität der Betreuung brauchen. In Wien sind bereits zwei große private Kindergartenbetreiber in Konkurs gegangen- sei es, weil die Finanzierung zu knapp ist, sei es, weil sie ungenügend beaufsichtigt werden. Durchwegs müssen viel zu wenige Kindergärtnerinnen viel zu viele Kinder betreuen. Fast überall eilig eingesetzte Hilfskräfte sind ungenügend ausgebildet. Die Vorstellung, dass sie unter diesen Voraussetzungen dazu kommen, Kindern Deutsch beizubringen, ist eine Illusion.
An diesen grundlegenden Problemen aller Kindergärten gemessen ist der vieldiskutierte Zustand „islamischer Kindergärten“ ein Randproblem, auch wenn es mit dieser ungenügenden Gesamtstruktur zusammenhängt.
„Wieso können österreichische Politiker manche Dinge nicht einfach nachmachen?“
Es ist jetzt über vierzig Jahre her, dass im profil eingehend und immer wieder die Vorzüge des französischen Kindergartensystems beschrieben wurden:
Kirche und Konservative haben dort von Beginn an ihren Widerstand gegen Kindergärten aufgegeben, weil ihnen klar war, dass die Berufstätigkeit der Frau nicht aufzuhalten ist – in Österreich hat dieser Widerstand bis ins neue Jahrtausend angedauert.
- Um den Weg zum Kindergarten so kurz wie möglich zu halten – ihn den Frauen maximal zu erleichtern- aber auch um privates Kapital zu wecken, hat Frankreich die Errichtung von Kindergärten am Arbeitsplatz, in Fabriken wie Ämtern und Betrieben steuerlich gefördert. Das ist hauptverantwortlich für Frankreichs ausreichende Geburtenrate, die bei uns vergeblich durch Kinderbeihilfen gefördert wird.
- Und der Beruf einer Kindergärtnerin oder Lehrerin an der Vorschule (école maternelle) ist angesehen und halbwegs adäquat bezahlt. Jedenfalls wird er seit Jahrzehnten von ausreichend Frauen und selbst ein paar Männern ergriffen.
Man kann die Vorteile dieses Systems insbesondere in Hinblick auf die Geburtenrate seit nunmehr fünfzig Jahren studieren und überprüfen.
Das sollte doch irgendwelchen Niederschlag finden.
Konkret: Das Gehalt von Kindergärtnerinnen gehört deutlich angehoben, weil sie Leistungen erbringen, die denen von Lehrern vergleichbar sind. Dann werden sich ausreichend Frauen und hoffentlich auch Männer finden, die bereit sind, eine entsprechende Ausbildung zu absolvieren. Diese Ausbildung hat besonderen Wert auf Sprach-Vermittlung zu legen: Kindergärtnerinnen, die immer öfter selbst Migrationshintergrund haben werden, müssen ordentlich Deutsch können.
Es muss für Kindergärten einheitliche Standards geben, die festlegen, dass maximal zehn – besser nur sieben- Kinder auf eine Betreuerin kommen.
Und es sind dringend massive steuerliche Begünstigungen für Betriebskindergärten zu schaffen.
Nur auf dem Weg über erstklassige Kindergärten ist Österreichs drängendes Sprachproblem zu lösen.
PS: Allein wenn die Familie Dichand gezwungen gewesen wäre, eine Erbschaftssteuer deutschen oder Schweizer Ausmaßes zu bezahlen, hätte man die hundert Millionen, die der Gemeindebund fordert, für viele Jahre zur Verfügung gehabt. Aber das ist nicht nur für Finanzminister Hans Jörg Schelling, sondern zu meiner Verblüffung auch für den Standard -Kolumnist Hans Rauscher ein unbilliges Verlangen.