FPÖ und NEOS wollen die „Zwangsmitgliedschaft“ bei den Kammern nicht länger dulden, auch wenn sie die „Sozialpartnerschaft“ nicht abschaffen wollen. Aber ohne gesicherte Kammer-Finanzierung wird die Sozialpartnerschaft ökonomisch inkompetent, und Österreich verliert ein wirtschaftspolitisches Atout.
„Zwangsmitgliedschaft“ ist unpopulär. Sowohl eine „liberale“ Partei wie die NEOS, als auch eine „freiheitliche“ Partei, wie die FPÖ, können Ihre Ablehnung der Zwangsmitgliedschaft bei Bundeswirtschafts- wie Arbeiterkammer daher ideologisch gut begründen.
Ich halte in der Wirtschaft wenig von Ideologie und mehr von pragmatischer Empirie: Ich behaupte, dass die „Sozialpartnerschaft“ nicht nur als Geisteshaltung, sondern auch als organisatorisches Wirtschaftsmodell Österreich nicht nur in der Vergangenheit ungeheuer viel gebracht hat, sondern auch in Zukunft ein immenser Standortvorteil sein wird. Und dass er untrennbar mit der gesicherten Finanzierung sowohl der Wirtschafts- wie der Arbeiterkammer verbunden ist.
Den ungeheuren vergangenen Nutzen möchte ich an einem Beispiel aus meiner Branche illustrieren: Ca. um 1970 wurde klar, dass der Bleisatz in Druckereien technologisch vor der Ablöse durch den Lichtsatz und letztlich die elektronische Datenübermittlung steht. In allen Ländern war die Gewerkschaft der Schriftsetzer aus historischen Gründen extrem stark und leistete diesem Wandel erbitterten Widerstand.
In Österreich vermochten die „Sozialpartner“ sich dennoch auf einen geordneten Übergang zu einigen: Innerhalb von zehn Jahren sollten alle Setzer in Pension gegangen und die neuen Technologien zugelassen sein. Genau so geschah es. In England oder den USA konnte man noch zur Jahrtausendwende auf Bleisatzmaschinen treffen.
Die Digitalisierung wird eine noch ungleich dramatischere technologische Revolution darstellen: Die Österreicher ahnen nicht, welch unglaublichen Vorteil sie darin besitzen, dass „Sozialpartner“ ihn dank zweier ökonomischer „Think-Tanks“ – und das sind die Kammern in ihrem Kern- vielleicht sozial verträglich gestalten können. So wie sie zuletzt jenes Maßnahmenpaket rasch und sozial verträglich zu schnüren vermochten, das Österreich die Weltwirtschaftskrise von 2008/9 mit besonders wenig Einbuße an Wachstum und Zunahme an Staatsverschuldung überstehen ließ.
Dass die Sozialpartner sich in sechs Monaten zwar über den „Mindestlohn“, nicht aber die „Flexibilisierung“ der Arbeitszeit einigen konnten, kann nur kritisieren, wer keine Ahnung von der Komplexität beider Materien hat: Ein zu hoher Mindestlohn kann Arbeitsverhältnisse verhindern- ein zu niedriger gefährdet die Kaufkraft. Noch weit schwieriger ist es, „Flexibilisierung“ erfolgreich zu gestalten: Zwar ist es erstrebenswert, die Arbeitszeit der Auftragslage anzupassen – aber „betriebsspezifisch“ gehandhabt, kann das auch eine volkswirtschaftlich gefährliche Abwärtsspirale der Entlohnung in Gang setzen.
In Frankreich wird womöglich auf der Straße darüber entschieden. Ich halte für einen Segen, dass in Österreich Ökonomen zweier Think-Tanks“ noch eine Weile darüber diskutieren.
Die Bundeswirtschaftskammer kenne ich nicht so genau und halte ihren Chef Christoph -„abgesandelt“ Leitl für ein Standort-Problem, aber der wirtschaftswissenschaftliche Apparat der WKO ist dennoch (abseits der Service-Leistungen für Unternehmen, die ich nicht einzuschätzen vermag) durchaus ernst zu nehmen. Man vermag technologische Entwicklungen oder Kosten dort besser als im Parlament einzuschätzen.
Die Arbeiterkammer kenne ich besser und behaupte, dass ihre wirtschaftspolitische Abteilung von überragender Kompetenz ist: Egal, ob es darum geht, zu erfahren, wie die Dänen ihren Arbeitsmarkt oder die Engländer ihren Wohnungsmarkt organisieren -ein Sachbearbeiter der AK weiß es. Die „Agenda Austria“, von der ich durchaus froh bin, dass es sie gibt, ist daneben ein Mini-Think-Tank – und ich persönlich halte ihre Finanzierung durch Unternehmen für tonangebender als die Finanzierung der Arbeiterkammer aus „Zwangsbeiträgen“. Immerhin hat diese Arbeiterkammer die Interessen der Druckerei- Unternehmen so selbstverständlich wie die ihrer Angestellten berücksichtigt.
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Auch ich bin der Meinung, dass beide Kammern mehr Geld als nötig bekommen haben und damit teilweise Luxus-Einkommen wie Pensionen ihrer Spitzenfunktionäre- nicht ihrer Ökonomen- finanzierten. Das soll und kann man eindämmen.
Aber die Abschaffung der gesicherten Finanzierung wäre fatal. Man schafft sie auch bei Universitäten nicht ab – und wirtschaftspolitische Think-Tanks sind nichts viel anderes als Universitätsinstitute.
Worüber man nachdenken kann, ist ein Splitting: Der Think-Tank wird Beitrags finanziert- die Serviceleistungen finanzieren freiwillige Mitglieder. Nur dass man dabei einen gewaltigen Unterschied zwischen Wirtschafts- und Arbeiterkammer machen müsste. Denn während es Unternehmen und Betrieben zuzumuten ist, einen Mitgliedsbeitrag für „Service“ zu entrichten, ist höchst fraglich, ob man das auch Geringverdiener zumuten kann und soll, die die AK in arbeitsrechtlichen Prozessen vertritt. Und selbst jemand, der sehr gut verdient, kann schwer selbst einen großen arbeitsrechtlichen oder gewährleistungsrechtlichen Prozess finanzieren. Für Arbeiter oder Angestellte ist der AK-Beitrag in Wirklichkeit ein Versicherungsbeitrag, der nicht viel weniger vernünftig als ihr „Zwangsbeitrag“ zur Sozialversicherung ist.
Bei der Bundeswirtschaftskammer mag man über den Service -Nutzen für die beteiligten Unternehmen streiten. Aber selbst falls er derzeit überbezahlt sein sollte, ist die Existenz des Think-Tanks und seiner Kooperation mit der Arbeiterkammer von so großem volkswirtschaftlichen Nutzen, dass ich ihn über diesen Streit nicht gefährden würde.
5 Kommentare
Was mir zu denken gibt, ist die panikartige Reaktion der Kammerfunktionäre auf den Vorschlag, die Pflichtmitgliedschaft abzuschaffen. Offensichtlich sind diese von ihren Leistungen selber nicht wirklich überzeugt. Bei den Gewerkschaften funktioniert die freiwillige Mitgliedschaft gut, diese übernehmen interessanterweise auch die Rolle der Arbeitnehmervertretung bei den Gehaltsverhandlungen, was von der Logik her eigentlich Arbeiterkammeraufgabe wäre.
Ich denke, eine freiwillige Mitgliedschaft wäre bei allen Kammern ein Ansporn, wirklich Leistung und Kundenorientierung zu zeigen. Eine wichtige Rolle würden sie auf alle Fälle auch in Zukunft spielen, aber weniger intern und Pfründe-fokussiert, sondern Service-orientiert – eine wirkliche Kulturänderung zum Wohle aller Staatsbürger.
Bei einer Überschrift „Die ‚Zwangsmitgliedschaft‘ ist segensreich!“ läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Als ich 1990 nach 23 Jahren im Ausland (hauptsächlich USA, aber auch Europa und Südamerika) nach Österreich zurückkehrte, war mein erster Eindruck, ich wäre ihm ehemaligen Ostdeutschland gelandet. Ich spürte an allen Ecken ’segensreiche‘ Elemente; ein System, wo das freie Auge auf den ersten Blick nicht erkennt, was Ursache und Wirkung ist (dazu musste man ein ‚gelernter Österreicher‘ sein); wo man klugerweise, kosten- und energiesparend den Rechtsstaat aushebelte mit dem Credo „Wir wer’n do kan Richter brauchen; des red‘ ma uns aus!“ Nach anfänglicher Verzweiflung ob solcher Verhältnisse machte ich eine überraschende Entdeckung: das System funktionierte und mein Pragmatismus sagte mir, dass man etwas, was funktioniert, nicht unbedingt reparieren sollte. Im Gegenteil: im Zuge der Zeit gewann ich oft Zweifel, dass ein vollkommen offenes, transparentes, liberales System für Österreich vielleicht gar nicht funktionieren würde, weil wir zu sehr konsensbedürftig, konfliktscheu und obrigkeitsgewöhnt sind.
Trotzdem: WK und AK auf die gleiche Ebene mit Universitäten zu heben, ist schon ein starkes Stück. Ich hatte nach 1990 relativ viel mit der WK und auch einiges mit der AK zu tun und konnte viele deren Führungskräfte kennenlernen. Auf den Gedanken, dass sie in erster Linie Think-tanks seien, wäre ich wohl nie gekommen. Aber wenn diese Think-tanks schon so nützlich sind, dann wäre doch naheliegend, sie den Universitäten anzugliedern und die Kammern auf ihre Hauptaufgabe zu reduzieren – d. h. Interessensvertretung. Sollten die Kammern dazu Studien benötigen, könnten sie diese von den Think-tanks der Universitäten bekommen (gegen Bezahlung!).
Ich verstehe schon, welchen riesigen Beitrag unsere ‚typisch österreichischen‘ Systeme zum post-1945 Wiederaufbau gemacht haben. Die seriöse Kooperation Rot-Schwarz, die Sozialpartnerschaft als Aufpasser für den sozialen Ausgleich, die Kammern als Interessensvertreter, vielleicht sogar die o. e. ‚Aushebelung des Rechtsstaates‘ – all diese Systeme haben die Jahrzehnte nach 1945 positiv geprägt und für Standortvorteile gesorgt. Aber jedes System ohne ausreichende externe Kontrolle wird früher oder später zweckentfremdet. Es würde mich interessieren, ob in den Statuten der WK und AK überhaupt erwähnt ist, dass sie Think-tanks sein sollen.
Eine ‚Zwangsmitgliedschaft‘ in der Sozialversicherung ist eine Sache. Wäre man dort nicht Mitglied, würde man früher oder später der Allgemeinheit zu Lasten fallen. Außerdem nennt man es dort klugerweise ‚Pflichtversicherung‘ und nicht ‚Zwangsversicherung‘. Ich wüßte nicht, wer der Allgemeinheit zu Lasten fallen würde, gäbe es keine ‚Zwangsmitgliedschaft‘ bei WK und AK. Möglicherweise wäre das einzige, was sich ändern würde, der Umstand, dass die Herrschaften bei WK und AK sich genauso um Kunden und Beiträge bemühen müßten wie jeder andere auch. Und vielleicht würden sich dann auch nicht so viele Privilegien ausgehen.
In meinen späteren Berufsjahren wurde ich vom Mehrheitseigentümer eines großen, börsenotierten Unternehmens eingeladen, in seinen Aufsichtsrat zu kommen. Das war für mich eine Ehre. Binnen Kurzem erhielt ich ein Schreiben der WK. Man habe eine Einkommensquelle aus selbständiger Tätigkeit entdeckt, schien jedoch bei der WK weder als registriert noch als versichert auf. Ich müßte auf der Stelle der WK Sozialversicherung beitreten und außerdem nachweisen, dass ich für meine selbständige Tätigkeit befähigt sei. Am Ende des Tages konnte alles zufriedenstellend aufgeklärt werden, wenn ich aber an die Korrespondenzen und Telefonate mit der ‚Obrigkeit‘ zurückdenke, dann denke ich an alles andere als eine ’segensreiche Institution‘.
Ich bin ein absoluter Gegner der AK-Zwangsmitgliedschaft. Und zwar seit dem Zeitpunkt, wo in den 80er Jahren im Profil, als Sie, sehr geehrter Herr Lingens noch Chefredakteur waren, über die Arbeiterkammerskandale berichtet hat.
Ich erinnere Sie an die Studienreise von Arbeiterkammerfunktionären nach Brasilien, und zwar just zur Zeit des Karnevals in Rio. Die Überschrift dieses Beitrages lautete damals, ich kann mich noch genau erinnern: Rambazamba.
Und dann kam es zum Höhepunkt der Arbeiterkammerskandale, nämlich der steirische AK Präsident Alois Rechberger.
Ich erinnere mich noch genau wie im TV Duell damals Jörg Haider ein Taferl über dessen Einkünfte hochhob und damit Bundeskanzler Vranitzky in Erklärungsnotstand brachte.
Und die Arbeiterkammer hat aus diesen Skandalen nichts gelernt, ich denke da an das Hassvideo der oö. Arbeiterkammer gegen Wirtschaftstreibende oder dass die AK Salzburg den verurteilten ehemaligen SPÖ Bürgermeister Schaden ohne mit der Wimper zu zucken wieder aufgenommen hat.
Mich wundert dass Sie kein Wort über die Silberstein Affaire verlieren? Es wäre interessant Ihre Sicht der Dinge zu hören.