Die Demontage Angela Merkels ändert nichts an Deutschlands verfehlter Wirtschaftspolitik und ihrem Schaden für Europa
Als ich Herausgeber des profil war, pflegte der Portier am Eingang zum Redaktionsgebäude trotz meines energischen Abwinkens jedes Mal aufzuspringen, um mir die Tür aufzuhalten. Als ich meine Funktion freiwillig zurücklegte und das Gebäude, eine schwere Kiste voll privater Gegenstände mit beiden Händen tragend, verlassen wollte, ließ er mich die Tür verzweifelt- die Kiste begann mir aus den Händen zu rutschen – mit dem Ellenbogen öffnen.
Ähnliches passiert derzeit Angela Merkel – sie wird öffentlich demontiert. Noch der letzte Kabarettist sagt ihr nach, sie wäre nicht mehr als die von ihren Händen geformte Raute gewesen und hätte bloß „Stillstand“ verwaltet.
Dass sie die CDU nach links geöffnet hat und ihr damit (voran zu Lasten der SPD) beträchtliche neue Wählerschichten erschloss, wird ihr plötzlich als „Verlust eines konservativen Profils“ angekreidet. Ihr, die nach Fukushima die sukzessive Schließung aller deutschen Atomkraftwerke durchsetzte und eine beispiellose Energiewende eingeleitete hat, wird mangelnde Gestaltungskraft nachgesagt. So wie vergessen wird, dass sie es war, die durchsetze, dass die EU der russischen Aggression in der Ukraine wenigstens mit (zu schwachen) Sanktionen entgegentreten ist.
Mitgefühl als entscheidender Fehler
In Wirklichkeit stürzte Merkel nicht über politisches Versagen innerhalb Deutschlands, sondern weit vor allem anderen über ihre Unfähigkeit, eine natürliche Regung des Mitleids zu unterdrücken: Als sie sah, wie verzweifelte Flüchtlinge, darunter Kinder, in strömendem Regen in Budapest festsaßen, erklärte sie, dass Deutschland bereit sei, diese Flüchtlinge- keineswegs alle Flüchtlinge Afrikas – aufzunehmen und dass ihre Integration in einem Land, dessen Bevölkerung bis 2050 um viele Millionen schrumpft, „zu schaffen“ sei.
Sie irrte, was die Fortwirkung ihrer Worte betraf: Es machten sich tatsächlich mehr Menschen auf den Weg nach Mitteleuropa, als diese Region meines Erachtens verkraften kann. Aber danach leistete sie neben Sebastian Kurz den größten Beitrag zur Schließung der Balkanroute, indem sie mit der Türkei vereinbarte Migranten nur in Absprache durchzulassen.
Dass sie keine Aufnahme-Quoten auf Seiten der EU durchzusetzen vermochte, spricht nicht gegen Sie, sondern gegen die Regierungen Ungarns, Polens oder Tschechiens, deren Flüchtlinge Deutschland oder Österreich seinerzeit mit offen Armen aufgenommen hat.
Die wirklichen Fehler spielen keine Rolle
Was man Angela Merkel wirklich zum Vorwurf machen müsste, kommt dagegen in der Diskussion kaum vor:
- Sie hat jenen widersinnigen Spar-Pakt über die EU verhängt, der bewirken musste, dass ihre Mitglieder sich soviel langsamer als die USA von der Finanzkrise erholen und eine soviel größere Arbeitslosigkeit verzeichnen. Eine Arbeitslosigkeit, die in erster Linie die zahlreichen Menschen, die mittlerweile in prekären Dienstverhältnissen leben, in Migranten eine bedrohliche Konkurrenz sehen und die AfD wählen lässt.
- Und ihr Wolfgang Schäuble ist der von Gerhard Schröder eigeleiteten Politik der „Lohnzurückhaltung“ nicht durch massive Investitionen des Staatshaushalts entgegengetreten, sondern hat im Gegenteil „Überschüsse“ angestrebt. Im reichsten Deutschland das es je gab sind daraufhin Schulen, Straßen, Brücken oder Bahnlinien verkommen. Gleichzeitig ist Europas größter Niedriglohnsektor entstanden, und jeder sechste Deutsche ist von Armut bedroht.
- Vor allem haben Deutschlands durch „Lohzurückhaltung“ unschlagbare „Lohnstückkosten“ dazu geführt, dass alle seine Konkurrenten, die ihre Löhne zumindest im Ausmaß der Produktivität gesteigert haben, massiv Marktanteile verlieren mussten. Frankreich büßt es mit 20 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, Italien hat ein Viertel seines BIP eingebüßt und dürfte der Lega Nord demnächst zur Mehrheit verhelfen.
- Die deutsche Politik-das ist das zentrale Drama- spaltet die EU endgültig in einen reichen Norden, in dem dennoch immer mehr Menschen relativ arm sind und in einen Süden, der ärmer wird, statt reicher zu werden.
Besserung ist nicht in Sicht
Das Tragische ist, dass nirgends Veränderung in Sicht ist. Der Vermögensverwalter Friedrich Merz als wahrscheinlichster Nachfolger Merkels dürfte kaum vom neoliberalen Wirtschaftspfad abweichen. Andrea Nahles tut es für die SPD genau so wenig: Ihr Finanzminister Olaf Scholz ist stolz, wie Schäuble das „Nulldefizit“ zu halten. Die deutschen Grünen danken ihren aktuellen Höhenflug viel weniger eigener Leistung als der Schwäche von CDU-CSU und SPD und einem heißen Sommer, der den Klimawandel ins Gedächtnis gerufen hat. Weder haben sie ein Konzept, ihn erfolgreicher als andere zu bekämpfen, noch gar ein allgemeines Wirtschaftskonzept, das Europas Schwäche und Spaltung beenden könnte.
So werden sich weder AfD noch Front National noch Lega Nord „nachhaltig“ aufhalten lassen.
PS: Das schwarz-blaue Arbeitszeitgesetz ist der erwartet Pfusch.
Wer dem Arbeitgeber das Recht einräumt, 12 Stunden-Tage zu verordnen, dem muss klar sein, dass der es nach Kräften tut. Nur ein Schwachsinniger kann annehmen, dass sich der Arbeitnehmer dagegen wehren kann. Dieses Gesetz ist daher auch nicht dadurch zu reparieren, dass man „strengste Strafen gegen schwarze Schafe“ einführt, die „unzulässigen Druck auf Arbeitnehmer“ ausüben. Die Arbeitgeber werden dann allenfalls immer mindestens drei Wochen vergehen lassen, ehe sie einen Arbeitnehmer kündigen, der den 12 Stunden-Tag verweigert hat.
In Wahrheit sollte man statt über einen Zwölf- viel eher über den generellen Sechs-Stunden-Tag nachdenken, bei dem mehr Angestellte einander im Schichtbetrieb abwechseln.
4 Kommentare
ich greife ihr p.s., herr lingens auf. ja, der pfusch beim arbeitszeitgesetz war – wie der dahinter liegende gedanke, bei dieser koalition erwartbar. und ich erachte eine debatte über eine arbeitszeitverkürzung, möglichkeiten für shared jobs und nicht zuletzt ein bedingungsloses grundeinkommen für höchst an der zeit. gute, wichtige themen für eine starke opposition – die aber derzeit leider weit und breit nicht zu sehen ist.
Der Herr Lingens übersieht – vermutlich absichtlich – das es ein wesentlicher Unterschied ist Flüchtlinge aus Nachbarländern hereinzulassen wie das in Österreich 56 und 68 der Fall war – Österreich war das erste Land auf der Flucht und eine Integration war sehr einfach schon aus historischen Gründen oder ob Flüchtlinge aus weit entfernten Ländern komme.
Sie haben nicht nur viele Länder durchkreuzt bevor sie hier angekommen sind – warum sind sie nicht in diesen Ländern geblieben? – sonder kommen auch aus Kulturräumen die unserer diametral entgegengesetzt sind und deren Einwanderung mit Sicherheit eine Gefahr für unser sekulares demokratisches System ist.
Wer das nicht sieht muss sich gefallen lassen das man ihm unterstellt das genau das in seinem Sinne ist.
Übrigens hat Polen fast eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine im Land Land gelassen – wieso wird das immer unterschlagen?
Dr. Michael Schönberg
Ich unterschätze es nicht, halte es aber für lösbar, solang man die Zuwanderung in vernünftigen Grenzen hält. Zumindes bezüglich geflohner Syrer bin ich auch nicht so sicher, dass sie einem unintegrierbaren Islam näher stehen, als unsre gut integrierten Bosnie, Auch ihre BIldumg würde ich nicht unterschätzen.
Peter MIchael Lingens
P.S. Dass Sie auf Polens integrationsleistung hinweisen scheint auch mir wichtig. Ich glaube zwar nicht, dass sie bewusst unterschlagen wird, aber man sollte sie tatsächlich gelegentlich würdigen.
Bereits über die „russische Aggression in der Ukraine“ könnte man sehr lange diskutieren.
Nur so viel: Die kam nicht aus dem Nichts. Da haben Sie sicher mehr Geschichtskenntnis als ich – aber auch über die „Motive des Westens“.
Zum Thema Migration / Flüchtlinge:
„Als sie sah, wie verzweifelte Flüchtlinge, darunter Kinder, in strömendem Regen in Budapest festsaßen, erklärte sie, dass Deutschland bereit sei, diese Flüchtlinge- keineswegs alle Flüchtlinge Afrikas – aufzunehmen“
Viele Menschen – auch bei uns – haben andere Erinnerungen, was von ihr vor drei Jahren bis nahezu heute gesagt und signalisiert wurde. Klar, die Mehrheit kann auch irren und Merkel falsch verstanden haben …
Beim Wirtschaftsthema haben Sie vollkommen recht, nur ist das nicht wirklich wahlentscheidend, weil es sehr komplex ist und selbst von „angesehenen Spezialisten“ unterschiedlich beurteilt wird.