Gr0ßbritanniens Brexit, Frankreichs Gelbwesten, Italiens Populisten: Ein trügerisches äußerliches Hoch verdeckt ein denkbar brüchiges Inneres der Europäischen Union.
Die EU genießt bekanntlich in Umfragen derzeit die höchste Zustimmung seit 25 Jahren. Diese Zustimmung ist vor allem der intensiven Berichterstattung fast aller kontinentalen Medien über die Brexit-Malaise Großbritanniens geschuldet, dem es angeblich seit dem Brexit-Votum miserabel geht.
Politisch ist es tatsächlich eine Malaise: Regierungschefin Theresa May musste bekanntlich ein Misstrauensvotum der eigenen Partei überstehen. Aber weil ein Parteistatut ein weiteres solches Votum für ein Jahr ausschließt, halte ich sie in Wahrheit für gestärkt. Obwohl sie mit Boris Johnson einen denkbar verantwortungslosen Parteifreund zum Widersacher hat, glaube ich, dass sie ihren „weichen“ Brexit letztlich durchs Parlament bringen wird.
Denn dem von ihr ausgehandelten Scheidungsvertrag, wonach Großbritannien akzeptiert, so lange in einer Zollunion mit der EU zu verbleiben, bis eine Lösung gefunden ist, die eine „harte Außengrenze“ zwischen Nordirland und Irland um beider Frieden willen vermeidet, steht als Alternative gegenüber, dass es im „harten Brexit“ zu einer „harten Außengrenze“ zwischen Großbritannien und der EU käme. Und dass das zwar auch schlecht für die EU, für die Briten aber „katastrophal“ wäre, kann den Abgeordneten beim schlechtesten Willen nicht verborgen bleiben, wenn sie auch nur einen Blick in die britische Handelsbilanz werfen. Auch jede künftige Brexit-Lösung könnte ja unmöglich darin bestehen, Zollschranken zwischen Großbritannien und der EU zu errichten, gleich ob es nun eine eher norwegische, eine eher schweizerische oder eine dritte Freihandelslösung wäre.
May und die EU Spitze werden bis zum letzten Moment darum pokern, ob man ein Datum festlegen kann, bis zu dem diese optimale Lösung gefunden werden muss, aber am Ende werden die Briten einlenken: Das wirtschaftliche Interesse, den „harten Brexit“ zu vermeiden ist einfach zu groß.
Zugleich bringt der „weiche Brexit“ selbst für begeisterte Brexiteers nur den Nachteil mit sich, die EU nicht sofort und total los zu sein. Es bleibt ihnen der Vorteil unbeschränkten Handels, und Großbritannien ist nicht einmal mehr theoretisch an die in meinen Augen miserable Wirtschaftspolitik der EU gebunden.
Dass es sich in der Praxis schon bisher abgekoppelt hat, war für Großbritannien noch vorteilhafter, als mein Text von vor zwei Wochen es hier dargestellt hat. Darin habe ich sein BIP nämlich nicht auf die Veränderung der Kursrelation des Pfunds zum Dollar bezogen, sodass seine Entwicklung mehr diese als den Gang der Wirtschaft gespiegelt hat. Misst man Großbritanniens BIP pro Kopf hingegen kaufkraftbereinigt am Dollar, so ist es seit 2009 trotz des Brexit-Votums durchwegs gestiegen, weil sich seine Volkswirtschaft sowohl dem blödsinnigen EU-Sparpakt von Beginn an verweigert hat als auch dem deutschen Exportdruck durch Abwertung des Pfunds ausweichen konnte.
Diese Unabhängigkeit von dummen wirtschaftlichen Entscheidungen einer von Deutschland am sadomasochistischen Sparhalfter geführten EU gewinnt Großbritannien durch den Brexit grundsätzlich, und es kann insbesondere auch dem mit wirtschaftlicher Fairness unvereinbaren deutschen Lohndumping für alle Zeiten durch Abwertung des Pfunds begegnen.
Der wahre wirtschaftliche Zustand der EU ist dem gegenüber, anders als die zitierten Umfragen suggerieren, ein mehr als problematischer: Emmanuel Macron dürfte die momentane Krise zwar überstehen, weil sich der teilweise von Rowdys gekaperte Protest der Gelbwesten vielleicht doch totlaufen wird. aber das ändert nichts daran dass das Gros der Franzosen sich mit ihren diffusen Forderungen nach einer jedenfalls anderen Politik identifiziert und dass ihr tiefer Missmut berechtigt ist. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und die Jugendarbeitslosigkeit explodiert, weil deutsche Unternehmen den französischen mittels Lohndumping unverändert Marktanteile abnehmen: Lag Frankreichs BIP pro Kopf 2005 kaufkraftbereinigt nur rund 1.000 Dollar unter dem deutschen, so liegt es heute 5.000 Dollar darunter. Vor allem sagt diese gewaltige BIP pro-Kopf-Differenz , die sich natürlich auch im Volkseinkommen niederschlägt, nur etwas über den Durchschnitt aber nichts über das Einkommen des einzelnen Franzosen aus. Wenn der ein Geringverdiener ist, dann stempelt ihn dieser Unterschied zum Verarmten – er hat nichts davon, dass ihm eine winzige Schicht Superreicher gegenübersteht, deren Einkommen im gleichen Zeitraum zwar nicht entfernt im deutschen Ausmaß, aber dennoch kräftig gestiegen ist. Ich glaube daher, dass Macron die nächsten Wahlen nicht übersteht und die EU mit Marine Le Pen rechnen muss.
Noch kritischer ist nach wie vor die politische wie wirtschaftliche Situation Italiens
Dort nehmen deutsche Unternehmen italienischen Firmen noch viel dramatischer Marktanteile ab. Lag Italiens kaufkraftbereinigtes BIP pro Kopf noch 2003 sogar um ein paar Dollar über dem deutschen, so liegt es heute 10.000 Dollar darunter. So haben es die Italiener als Abstieg erlebt. Und jetzt stelle man sich den Unmut eines italienischen Geringverdieners vor, auch wenn es Italien dank seine gewaltigen schwarzen Wirtschaft stets etwas besser geht als die Zahlen suggerieren.
Denn wie für alle Länder der EU gilt auch für Italien das Gesetz des Neoliberalismus: Die Schicht der Geringverdiener reicht bis weit in den Mittelstand. Der reale Zustand ist: Millionen Verarmter stehen einer winzigen Schicht Superreicher gegenüber.
2 Kommentare
Sehr geehrter Herr Lingens! Ich vermisse Sie vermittels Ihrer Artikel sehr! Wo sind Sie?
Erbärmlicher „Zustand“ dieser EU Juncker Cliquen!