Wie ticken die Briten?

Der Hauptgrund für einen weichen Brexit bleibt der Milliardengewinn durch Steuervermeidung

Für mich ist britisches Verhalten am Besten aus einer angeblich wahren (vielleicht auch nur gut erfundenen) Überschrift der “London Times” zu erklären: “Terrible Fog On The Channel – The Continent Has Been Separated.”

Im Hinterkopf britischer Politiker wohnt unverändert das Bewusstsein, ein “Weltreich” zu vertreten, das allen anderen Weltreichen der Geschichte wirtschaftlich wie politisch weit überlegen war. Aus Brüssel auch nur mitregiert zu werden, war für Briten daher nie standesgemäß und sie haben sich der EWG entsprechend lange nicht angeschlossen. Die “Torries”, weil man den Hinterkopf bei gesteiftem Kragen besonders hoch trägt – bei “Labour”, weil unter ihren Führern stets “linke” waren, die in der Europäischen Gemeinschaft, wie Jeremy Corbyn, einen Konzern der “Konzerne” sehen. (Abseits der vom Kreml geforderten “Neutralität” führte auch Bruno Kreisky Österreich aus diesem Grund nicht in die EWG, sondern lieber die EFTA als bloße Freihandelszone).

Dass die EFTA-Mitglieder England und Österreich letztlich doch zur EWG wollten hatte nur einen Grund: Die EWG erwies sich als wirtschaftlich ungleich erfolgreicher.

Ich kann leider nicht behaupten, dass auch die aktuelle EU ein wirtschaftlich besonders erfolgreiches Modell ist: Zu oft habe ich hier begründet, warum ihr Spar-Pakt und die deutsche “Lohnzurückhaltung” ökonomisch denkbar kontraproduktiv sind. Die Briten haben aber – dank Nutzung auch des Vorderhirns – beide Fehler vermieden: Ihr Wirtschaftswachstum wurde nicht durch den Sparpakt gebremst, weil sie sich ihm nicht unterwarfen – und sie haben durch Deutschlands Lohn-Dumping keine Marktanteile verloren, weil sie ihre Währung und Notenbank beibehalten haben, so dass ihre Konkurrenzfähigkeit stets durch ein abgewertetes Pfund gesichert war.

Anders als Frankreich oder Italien war Großbritannien daher in der aktuellen EU wirtschaftlich gut aufgehoben, genoss es doch außerdem den “Briten-Rabatt”, der sicherstellte, dass es stets relativ niedrigere Beiträge als alle anderen Nettozahler zahlen musste. Gleichzeitig erschloss die EU-Mitgliedschaft der einzigen wirklich starken britischen Industrie, der Geldindustrie, bis heute Milliarden- Einnahmen auf einzigartiger Basis: Die “City of London” untersteht dank eines historischen Vorrechts nicht zur Gänze der britischen Steuergesetzgebung und so konnte sich dort mittels eines Geflechts von Steueroasen, die von den Cayman-Inseln über Bermuda und BVI bis Gibraltar reichen- die größte Steuervermeidungs- Zone der Welt etablieren.

Es bedurfte tatsächlich der dicken Lügen eines Michael Farrage, die Briten als Opfer der EU darzustellen und das Brexit-Votum zu provozieren. (Obwohl es kaum zustande gekommen wäre, wenn eine neoliberale Wirtschaftspolitik nicht auch in Großbritannien so viele “Abgehängte” produziert hätte.)

Aus der “City of London” kommt denn auch begreiflicher Weise der mit Abstand größte Widerstand gegen den Brexit. (Und eigentlich müsste sich auch die EU fragen, ob die “City” eigentlich mit Großbritanniens Mitgliedschaft vereinbar war. Denn es kann keinen fairen Wettbewerb der Unternehmen geben, wenn einige von ihnen ungleich weniger Steuern als ihre Konkurrenten zahlen.)

Der geballte Widerstand der “City of London” ist es denn auch, der mich unverändert an einen geordneten und nicht totalen Austritt Großbritanniens aus der EU glauben und im Exit aus dem Brexit via neuerlicher Volksabstimmung zumindest weiterhin eine Möglichkeit sehen lässt.

Allerdings gibt es folgende Gegen-Argumente:

  • Boris Johnson, der Anführer der Fundamentalisten unter den Brexitiers, ist ein Politiker vom Schlage Michael Farrages: Er nimmt jedes Problem Britanniens und schon gar Nordirlands in Kauf, wenn er bei dieser Gelegenheit nur Theresa May beerben und Premierminister werden kann.
  • Jeremy Corbyn, auf den Margret May jetzt zugeht, wünscht zwar, wie die meisten Labour-Abgeordneten, einen “weichen”, geordneten Breixt, will aber nichts desto trotz in erster Linie den Sturz der Regierung und steht Brüssel unverändert skeptisch gegenüber. Den Exit vom Brexit unterstützt er kaum.
  • Eher glaube ich daher, dass die EU sich bewegen wird. Es gibt im Hinterkopf ihrer Akteure zwar das begreifliche Bedürfnis, den Briten zu beweisen, dass sie mit ihrem Austritt einen Fehler machen. Ebenso bergreiflich halten sie mit Parlamentspräsident Antonio Tajani für unumstößlich”, dass es mit ihnen keine Vereinbarung geben kann, die besser als eine Mitgliedschaft in der EU ist”, und der von Michel Barnier ausgehandelte Vertrag trägt dem Rechnung: Die Briten unterstünden weiterhin den Regelungen der EU, hätten diese aber nicht mehr mitzubestimmen.

Nur darf man sich in der EU nicht wundern, dass das britische Parlament diesen Vertrag ablehnte.

Wenn die EU ihrerseits Wert auf einen geordneten Brexit legt, wird sie den Barnier-Vertrag daher entgegen ihren Schwüren (“daran kann kein Wort geändert werden”) doch aufschnüren müssen. Das geballte Interesse der deutschen Autoindustrie, die um ihren zollfreien Zugang zu Großbritannien bangt, wird Angela Merkel diesbezüglich weich stimmen. Und natürlich ist es möglich, mit Großbritannien ähnliche Freihandelsabkommen wie mit Kanada oder Norwegen zu schließen und auch durch sie eine “harte” Grenze mit Zollkontrollen zwischen Irland und Nordirland zu vermeiden, statt auf Großbritanniens fortgesetzter Mitgliedschaft in der EU-Zollunion zu beharren.

Dass die EU selbst unverändert eine gewaltige Baustelle bliebe, ist ein anderes Kapitel.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4 Kommentare

  1. So wird es wohl kommen, wie im letzten Absatz beschrieben. Für mich ist spannend zu sehen, aus der Ferne, ob eine der von Vernunft getriebenen Initiativen wie diese
    https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-01/grossbritannien-brexit-frauen-rechtsextremisten-drohungen
    nicht doch noch eine mitreißende Eigendynamik gewinnt. Das hätte ich eigentlich erwartet.

    Nebenbei: wenn dann eine – doch wohl positiv zu wertende – Wendung wie im Shutdown eintritt, reden auch Qualitätsmedien vom “großen Verlierer”. Ist Politik nur noch ein möglichst unterhaltender Schaukampf in einer Arena? Jede (Zwischen-)Einigung ein Desaster?

  2. Ausschlaggebend für den negativen Ausgang der Abstimmung am 23.6.2016 war vermutlich die Migration. Ich wage zu behaupten, dass ohne Migrationskrise 2015 die Abstimmung anders ausgegangen wäre. Auch die Position von Frau Merkel in der Migrationskrise 2015 wird einen Beitrag dazu geleistet haben.
    Die Briten hatten gerade die osteuropäische Einwanderungswelle hinter sich, da stand schon die nächste, muslimisch-arabische Einwanderungswelle bevor.

    1. Ich teile vollkommen Ihre Meinung, wage sogar zu behaupten, dass Frau Merkel maßgebend für den Niedergang der EU verantwortlich ist und war. Nur trauen sich das nur wenige bestätigen – auch Herr Lingens nicht -, da das die vorherrschende Meinung der Rechten ist. Und welche/r “Gute” möchte denen schon einmal Recht geben …

  3. Mich wundert, dass in diesem Artikel der “freie Personenverkehr”, der mit ein Haupttreiber der Brexit-Abstimmung war, nicht betrachtet wird. Auch das “ehemalige Weltreich” will nicht (mehr) eine grenzenlose Zuwanderung.

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