Italienkrise: Kein Medikament in Sicht

Marktanteilsverluste an Deutschland und ein kontraproduktiver Spar-Pakt sind zu viel für ein Land, das schon Berlusconi aushalten musste.

Italien bewegt sich langsam, aber sicher auf die existentielle Krise zu, die ich hier mehrfach angesprochen habe, weil sie zur Krise des Euro werden kann. Vorerst drängt Matteo Salvini auf Neuwahlen, zu denen die „Fünf Sterne“ ihm optimalen Anlass geboten haben: Eine ICE-Verbindung zwischen Turin und Lyon nicht fertigzustellen, obwohl das Projekt zu 40 Prozent von der EU finanziert wird und Italiens Unternehmen Großaufträge verschafft, entspricht dem wirtschaftlichen Verstand Beppe Grillos. Die Fünf Sterne versuchen diese Neuwahlen mit Hilfe der ihnen verhassten Sozialdemokraten Matteo Renzis zu verhindern; finden sie dennoch statt, werden sie der Lega Nord wohl eine klare Mehrheit verschaffen.

Das ist, wenn man Salvinis Persönlichkeit betrachtet, ähnlich anheimelnd wie die Vorstellung, dass Herbert Kickl Österreich regierte.

Die EU plagt allerdings eine andere Sorge: Dass Italien unter seiner Führung den Euro verlassen könnte. Ich glaube das eher nicht, denn wie die FPÖ-Spitzen dürfte er mittlerweile wissen, dass das bei der Bevölkerung nicht ankommt. Eher wird er versuchen, die EU mit der Drohung eines möglichen Austritts zu Zugeständnissen zu bewegen.

Die EU hat dann drei Möglichkeiten:

  • Den kontraproduktiven Spar-Pakt aufzugeben – das wird Deutschland kaum zulassen.
  • Die mit dem Spar-Pakt verknüpften Bedingungen nicht ernst zu nehmen (sie hat ja schon jetzt auf ein Verfahren wegen der Überschreitung des Defizits verzichtet) und Italien die Missachtung des Paktes zu gestatten
  • Oder Salvini wie Alexis Tsipras zu seiner Einhaltung zu zwingen indem die EZB Italiens Banken mit mangelnder Rückendeckung droht – das wäre der Weg in die griechische Tragödie.

Der schlampige Mittelweg ist daher der wahrscheinlichste. Obwohl es ein entscheidender, weil qualitativer, Unterschied ist, ob man Italien bewusst Großinvestitionen des Staates in allen Bereichen seiner Infrastruktur gestattet (vom digitalen Netz übers Verkehrsnetz bis zu erdbebensicheren Bauten) und dafür ein beträchtliches Defizit akzeptiert, das freilich mit der Chance auf echte Erholung verbunden ist – oder ob man bloß zulässt, dass der Staat eben ein wenig mehr mehr ausgibt als er einnimmt, weil er Arbeitslose versorgen muss und Verluste maroder Staatsbetriebe abdeckt.

Franz Kössler beschreibt im Falter „Italiens Angst vor einem neuen Faschismus“ als Endpunkt seiner ewigen hausgemachten Probleme die da sind: überschießende Korruption, eine Justiz, die ihr nicht gewachsen ist; ein desolates Steuersystem; das Steuerhinterziehung zur Norm macht; eine viel zu große, verlustreiche staatliche Industrie und vor allem ein kaum zu überwindendes, weil gesellschaftlich bedingtes Nord-Süd Gefälle. Das alles hat es zwar immer gegeben, aber dank Silvio Berlusconi hat es wohl einen Höhepunkt erreicht.

Ich will mich dennoch mit den von außen hinzugekommenen Problemen Italiens befassen, die ich aktuell für noch gravierender halte: Mit den Marktanteilsverlusten an Deutschland (Österreich), deren Lohnstückkosten dank „Lohnzurückhaltung“ um 30(20)Prozent unter den italienischen liegen (siehe Grafiken) und mit der Rezession dank des Sparpaktes. In Ziffern: Italiens reales BIP pro Kopf, das 2003 mit 37.199USD fast gleichauf mit dem deutschen lag, verringerte sich dank Spar-Pakt und Marktanteilsverlusten im Export in 16 Jahren auf 35.739 USD und liegt damit heute um 10.000 USD unter dem deutschen. (Siehe Grafik) Die Staatsschuld stieg während des „Sparens“ von 1.671 Milliarden Euro im Jahr 2008 auf 2.386 Milliarden im Juni 2019. Die Staatsschuldenquote, die sowohl diesen Anstieg der Schulden wie den Absturz des BIP zu verkraften hatte, schnellte von 102 auf heute 132 Prozent in die Höhe. Die Arbeitslosigkeit stieg von 6,7 auf 10,6 Prozent.

Ähnlich der Vergleich mit Österreich: noch 1991 lag Italiens BIP pro Kopf mit damals beachtlichen 31.199 USD nur knapp unter den 31.341 USD Österreichs. Denn das Land besitzt -auch heute- hervorragende Wissenschaftler und Techniker, sein Norden ist hoch industrialisiert; seine Produkte zeichnen sich durch besondere Schönheit aus; und die Italiener sind auch in keiner Weise faul- pro Jahr arbeiten sie mehr als Deutsche oder Österreicher. Der Euro-Beitritt, so war man im In-wie im Ausland überzeugt, würde Italiens Aufstieg weiter befördern, zumal es sich in der Vorbereitung darauf als Musterschüler erwies: Ganz im Sinne des Maastricht-Vertrages produzierte sein Staatshaushalt bereits seit 1995 ständig – Hartwig Löger müsste in Standing Ovations ausbrechen- „Primärüberschüsse“.

In Wirklichkeit entzogen diese Überschüsse des Staates – wie das auch Österreichs aktuelle Überschüsse tun werden- der Wirtschaft schon damals nötige Investitionen: Bis zum Jahr 2000 hatte sich der pro Kopf-Abstand zu Österreich, wo Hannes Androsch Schulden statt Überschüssen produzierte, auf 2.491 USD erhöht. Der gewaltig intensivierte EU-interne Handel ließ beider BIP bis 2007 zwar gewaltig steigen, aber der Abstand zu Österreich war zu diesem Zeitpunkt bereits auf 6.831 USD angewachsen und liegt heute wie zu Deutschland bei 10.000 USD.

Einen einfachen Ausweg sehe ich nicht, selbst wenn man den Spar-Pakt ad acta legt und Salvinis geplante Wirtschaftspolitik eine geniale wäre. Denn um die an Deutschland (Österreich) verlorenen Marktanteile zurückzuerobern, müsste Italien deren Lohnstückkosten unterbieten, das heißt seine Löhne um bis zu 35 Prozent senken- das ließe seine Inlandskonjunktur einbrechen und mündete in eine Revolution.

2 Kommentare

  1. Spontan fällt mir ein: niemand hätte mit einem Papst wie Franziskus gerechnet. Ich liebe Italien, die – im Text angesprochene – Schönheit der Produkte, die Lebensart, die Geräuschkulisse auf einem Campingplatz von Einheimischen am Gardasee vor Jahrzehnten, die Architektur und vieles mehr. Daher hoffe ich auf eine Entwicklung im Sinne von Steve Jobs: „Stay hungry, stay foolish.“ Es ist (oft) mehr möglich als wir uns vorstellen können.

  2. Herr Lingens, sehr viele – wirtschaftlich richtige – Details.

    Aber in Demokratien – wie wir sie (fast) alle schätzen – läuft es anders.
    Die EU wird es wegen ungebremster Migration auf mittlere Sicht zerreißen. UK ist gerade dabei, sich zu verabschieden.

    Die „Guten“ (Merkel-Deutschland) und die „Bösen“ (Salvini-Italien u. Co.) stehen sich unversöhnlich gegenüber und haben jeweils ihre Anhänger. Der Franzose Macron möchte gerne die Führungsrolle in Europa übernehmen, wird sie aber – aus verschiedensten Gründen – nicht einnehmen können, weil er selbst im eigenen Land am absteigenden Ast ist.

    So wird das nichts mehr mit der EU. Da mag man über den gestörten Trump und diktatorischen Putin lästern, wie man will …

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