Boris Johnson großer Poker

Für überzeugte Brexitiers hat er einen wesentlich besseren Brexit-Deal als Theresa May ausgehandelt – aber ohne Neuwahlen geht in Großbritannien weiterhin nichts weiter.

Boris Johnson hat seine Bevölkerung über die Absichten der EU belogen, er hat versucht, sein Parlament auszuschalten und in Kauf genommen, sein Land dem Chaos eines ungeregelten Brexit auszuliefern – aber er war erfolgreich: Der von ihm mit der EU ausgehandelte Scheidungsvertrag ist ein für Großbritannien ungleich besserer als der Theresa Mays. Denn im May- Abkommen musste ganz Großbritannien solange in einer Zollunion mit der EU verbleiben, bis eine bessere Lösung gefunden würde, eine “harte” Grenze (EU-Außengrenze) zwischen der Republik Irland und Nordirland zu vermeiden. Großbritannien hätte damit auf unbestimmte Zeit einer Zollunion angehört, deren Regeln es als Nichtmehr-EU-Mitglied nicht mehr mitbestimmen kann, und Brexitiers mussten sogar fürchten, dass dieser Zustand ewig anhält, weil die EU keine “bessere” Irland -Lösung finden will. Deshalb habe ich immer verstanden, dass das Parlament das May-Abkommen drei Mal abgelehnt hat.
Im Johnson-Abkommen wird die “harte” Grenze innerhalb Irlands vermieden, indem die Republik Irland und Nordirland zolltechnisch vereint werden: Die Republik Irland ist als EU-Mitglied sowieso Teil der Zollunion- das kleine Nordirland (nicht aber ganz Großbritannien) muss sich ebenfalls ihren Regeln unterwerfen, und selbst diese auf Nordirland beschränkte Lösung ist alle vier Jahre kündbar. Der Vorteil in den Augen überzeugter Brexitiers ist offensichtlich: Großbritannien ist mit Ausnahme des kleinen Nordirland völlig aus dem Regelwerk der EU entlassen. Es kann sich nicht nur politisch positionieren wie es will, sondern auch frei entscheiden, welche Beschäftigung von Ausländern es akzeptiert oder welche Freihandelsabkommen von CETA bis TTIP es abschließt. Es hat, wie von “Leave” versprochen, “die Kontrolle zurückgewonnen”.
Johnson hat perfekt gepokert: Er hat zu recht darauf gesetzt, dass die EU Großbritanniens Forderungen um so eher nachgeben würde, je glaubwürdiger er drohte, sie notfalls auch ungeregelt zu verlassen. Es hat mich daher nicht verwundert, dass das Johnson-Abkommen vom Parlament im Prinzip akzeptiert wurde: Nicht nur alle Torries, sondern auch 19 Labour- Brexitiers waren dafür. (Johnson konnte daher verschmerzen, dass die 10 Abgeordneten der nordirischen DUP, die bis dahin an seiner Seite gestanden waren, gegen das Abkommen stimmten, weil sie damit eine Zollgrenze zu England in Kauf nehmen.)
Falsch gepokert hat Johnson hingegen, indem er in einer zweiten Abstimmung forderte, sein Abkommen binnen drei Tagen in zweiter und dritter Lesung endgültig abzusegnen, um den von ihm versprochenen Austrittstermin am 31. Oktober einzuhalten. Das Parlament lehnte ab: Er möge begreifen, dass es sich von ihm nicht drängen lässt, sondern diese komplexe Materie eingehend studieren, allfällige Einwände prüfen und seine Entscheidung in aller Ruhe fällen will. Johnson, dem klar war, dass sein versprochener Austritt vor dem 31. Oktober damit ausgeschlossen und die Annahme seine Abkommens unverändert ungewiss war, pokerte weiter und setzte alles auf eine Karte: Er beantragte Neuwahlen am 12. Dezember, bei denen, so nimmt er an, diejenigen abgestraft würden, die seinem Abkommen im Oktober nicht zugestimmt haben.
Mit diesem Neuwahlantrag ist er gescheitert, weil Labour ihm die dazu nötige Zweidrittelmehrheit versagte. Er kann dieses Erfordernis aber durch ein einfaches Gesetz ändern und dabei werden schottische Nationalisten und Liberale jedenfalls dann für eine Mehrheit sorgen, wenn ihnen zusätzlich zu Wahlen am 12. Dezember eine neuerlichen Brexit- Abstimmung zugesagt wird oder die Wahlen auf 8. Dezember vorverlegt werden, weil dann die vielen Studenten, die gegen den Brexit stimmten, noch nicht in die Weihnachtsferien entlassen wären. Ob den Brexit-Gegnern das gelingt, vermag ich bei Redaktionsschluss (Dienstag 8 Uhr) nicht abzusehen.
Was das Ergebnis von Neuwahlen betrifft, so lagen Johnsons Tories in letzten Umfragen zwar deutlich vorne, aber wenn sich Nigel Farage, dessen UKIP am liebsten einen ungeregelten, auch Nordirland umfassenden Brexit will, energisch in den Wahlkampf einzuschalten vermag, können ihm wichtige Mandate abhanden kommen. Auch dass die Bevölkerung sich zwischen Torries und Labour lieber für die Liberaldemokraten entscheidet, ist nicht völlig ausgeschlossen.
In Österreich, wo voran die FPÖ mehr direkte Demokratie fordert, macht das britische Beispiel hoffentlich klar, welch gewaltige Gefahren mit “Volksabstimmungen” an Stelle parlamentarischer Abstimmungen der “Volksvertreter” verbunden sind: Emotionen spielen dort eine noch größere Rolle und können von unverantwortlichen Volkstribunen á la Nigel Farage oder Boris Johnson noch leichter mittels blanker Lügen manipuliert werden.
Dazu kommt die neue, dramatische Gefahr der Manipulation im Wege von Facebook und Co. Beim Votum für Donald Trump haben russische Einflussnahmen mit ziemlicher Sicherheit die entscheidenden Rolle gespielt, beim Brexit-Votum haben Farage und Johnson von den Diensten eines Internet- Unternehmens profitiert, die ein englischer Russland-Kaufmann mit acht Millionen Pfund finanzierte.
In Wirklichkeit müsste man beschließen: Jede Volksabstimmung, die nicht mindestens sechs Prozent Abstand ergibt, ein zweites Mal durchzuführen, damit das Volk entscheiden kann, ob es das, wofür es sich beim ersten Mal entschieden hat, auch wirklich will. Das kostete zwar einiges Geld – aber es wäre ungleich billiger als das jahrelange Leben mit einer Fehlentscheidung.

Ein Kommentar

  1. Der Deal von Johnson war unter May schon am Tisch und verschwand nur, weil die UDP sich quer legte. Johnson hat nach den Parteiausschlüssen ohnedies keine Mehrheit und hat daher die UDP fallen gelassen. Super Leistung. Wird spannend, wer nach diesem Superdeal in Nordirland als erster wieder zu den Waffen greift, die Republikaner oder die Loyalisten.

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