Johnson rudert zurück – Holland prescht vor

Jetzt werden auch in Großbritannien Großveranstaltungen abgesagt, Schulen und Museen geschlossen, Bildschirmarbeit und zu Hause wird angeraten. Zögernd und verspätet nähern die Briten ihre Maßnahmen denen der EU an, nachdem Boris Johnson ursprünglich – ich habe es ausführlich beschrieben- eine ganz andere Strategie gefahren war: Nur die Über-Sechzigjährigen sollten zu Hause bleiben – der Rest der Bevölkerung sollte wie bisher leben und damit rasche Herdenimmunität erreichen. Dagegen will Niederlands Premier Mark Rutte gegen gleichfalls wachsenden Widerstand bei der ursprünglichen Johnson-Strategie bleiben: Die Jungen sollten durch möglichst rasche Durchseuchung Immunität erlangen.

Wie aussagekräftig ist Italien?

Es waren in beiden Ländern führende Virologen, die Johnson und Rutte zu ihrer Politik geraten haben, obwohl ihnen nicht nur von der Opposition, sondern auch von Teilen der Bevölkerung Widerstand entgegenschlug. Diese Virologen sehen das Virus ähnlich wie der von mir zitierte Bonner Corona-Experte Hendrik Streeck: Es sei zwar extrem infektiös, aber nicht sonderlich gefährlich. Tatsächlich liegen die Sterblichkeitsraten derzeit in Deutschland, Österreich oder der Schweiz bei allerdings strengen Maßnahmen im Promillebereich. Die hohe Rate in Italien erklären diese Virologen damit, dass die Zahl der Infizierten in Wirklichkeit ungleich größer ist und dass das kaputtgesparte italienische Gesundheitssystem durch die bei jeglicher Strategie gesteigerte Belastung mit Covid-19 zusammengebrochen ist. Ein ungenügendes Gesundheitssystem sei immer mit höherer Sterblichkeit belastet. An Wochenenden wird selbst in Österreich mehr gestorben – im zusammenbrechenden italienischen System sterben jetzt Krebskranke, Herzkranke oder schwere Diabetiker durchwegs schneller und werden möglicherweise unter “Corona-Tote” subsumiert.

Die Experten widersprechen einander

Von Anfang an war Johnsons Strategie mit dem Risiko des desolaten Zustands des britischen Gesundheitssystems belastet, das von seiner Partei neoliberal kaputtgespart wurde. So stehen 66,4 Millionen Briten etwa nur 5000 Intensivbetten zur Verfügung. Vor wenigen Tagen sprach eine Studie des Imperial College of London davon, dass die britische Strategie mindestens 240.000 Tote produzieren und die allgemeine Sterblichkeit sehr wohl deutlich steigern würde.

Hinzu werden jedenfalls erhöhte wirtschaftliche Probleme treten: Johnson hat keine Gesetze zur Abstützung strauchelnder Unternehmen vorbereitet und britische Arbeitslose stürzen ins Elend.

Vermutlich war es die Londoner Studie, die Johnson abseits der Proteste der Opposition und der zunehmenden Angst der Bevölkerung zum Zurückrudern bewegte. Entgegen steht der Studie die Aussage Hendrik Streecks, der sagt: “Ich hänge mich zwar aus dem Fenster, aber ich riskiere die Behauptung, dass wir in Deutschland am Ende des Jahres nicht mehr Tote als in vergangenen Jahren haben werden.”

Das Ende besonnener Diskussion

Emotionslose Diskussion über die richtige Strategie ist kaum mehr möglich – ein wenig gleicht sie der Diskussion über Sebastian Kurz` Forderung, aus dem Mittelmeer Gerettete nicht in die EU zu bringen. Der Kurier etwa nannte Ruttes Politik ein “Spiel mit dem Tod” und einer meiner Leser mutete mir eine ähnliche Einstellung zu. Die WHO bestätigt die Strategie der EU und nennt Johnsons wie Ruttes Strategie gefährlich. Unter anderem, weil keineswegs erwiesen sei, dass eine überstandene Covid-19 Erkrankung Immunität beschert.

Unser gerettetes Gesundheitssystem

Ich will hier trotz allem weiterhin versuchen, eine rationale Diskussion zu führen: Zwar neige ich der Ansicht zu, dass Ruttes wie Johnsons Strategie grundsätzlich richtig ist, auch wenn sie ein starkes Gesundheitssystem zur unverzichtbaren Voraussetzung hat und ein solche in Großbritannien offenkundig nicht gegeben ist. Aber ich bin davon alles eher als überzeugt und nehme jedes Gegenargument nicht nur zur Kenntnis, sondern gebe es auch wieder.

So gibt es bisher etwa tatsächlich keine wissenschaftliche Studie, die belegt, dass eine überstandene Covid-19 Erkrankung Immunität beschert. Aber die Entwicklung der chinesischen Zahlen spricht eher dafür, auch wenn der unbestrittene massive Rückgang der Neuerkrankungen zweifellos auch mit der autoritären chinesischen Kasernierungspolitik zusammen hängt.

Ganz sicher ist für mich eines: Dass die Qualität des Gesundheitssystems für die Anzahl der Toten von entscheidender Bedeutung ist und dass sein durch Jahrzehnte geübtes Kaputtsparen zu einer Katastrophe – wie in Italien- oder zu enormen Risiken – wie in Großbritannien- führen muss.

So danke ich Gott dafür, dass Rudolf Anschober an Stelle von Beate Hartinger- Klein auf absehbare Zeit über unsrer Gesundheitssystem entscheidet.

6 Kommentare

  1. Ein interessanter Artikel im Zusammenhang Corona und Migration. Bitte auch die Postings dazu lesen.
    https://www.derstandard.at/story/2000115942546/fluechtlingsquartier-wird-zur-quarantaenestation?

    “Schreiberlinge” wie Frau Irene Brickner im Standard machen nur die Rechten stark, weil durch ihre verbreiteten Ansichten “der Hass” in der Bevölkerung steigt – aber das checken die gar nicht! Beim Herrn Rauscher ist der Fall ähnlich gelagert …

  2. Soeben im TV “Wien heute”: Eine 94-Jährige ist heute – nach einem Sturz – nach einige Tagen im Spital gestorben. Und sie hatte den Corona Virus. Diese alte Dame wäre “früher” wahrscheinlich auch an einer Lungenentzündung – ohne weitere Virenuntersuchung – relativ bald nach ihrem Unfall gestorben, vermute ich einmal.

    Aber solche Meldungen in den Medien verursachen – wahrscheinlich bei immer mehr Menschen – eine Ablehnung zur sinnvollen Vorsicht und vernünftigen Maßnahmen. Aber solche Effekte sind auch gegenüber “naive Gutmenschen” beim Migrationsthema zu beobachten, wenn man sich traut, kritisch zu schauen und sich auch traut, Entwicklungen klar auszusprechen.

    1. Auch für mich ist dieser Artikel eine Erleichterung!einJournalist schreibt folgende Zeilen: Offenbar ist die Mehrheit der Leute von einem Rausch an Solidarität,Panik,nationaler Aufwallung und verzweifelten Aktionismus erfasst- die Räume für Fragen, Nachdenken,Vernunft werden kleiner. Irre, wie anfällig wir sind!”

  3. Erleichterung! Lieber Herr Lingens, herzlichen Dank für diesen Artikel. Niemand scheint den Mut zu haben, gegen diesen Mainstream zu schreiben.
    Mein kritischer Geist erwacht, wenn ich mit nur EINER Erklärung, die nur EINE Maßnahmenchance lässt. Polizeibefugnisse ausgeweitet, massive Einschränkung der persönlichen Freiheit. Wer profitiert? Pharma – ja. Aber ganz massiv auch die BK-Partei. Angst, völlige Unsicherheit und dann ein “Messias”, ein “Führer” einer Regierung, der klar sagt, was zu passieren hat. Kurz wird die Krise und “Bewältigung” so lange wie möglich ausdehen. Bis die Erinnerung an seine Heldentaten im Langzeitgedächtnis der Bevölkerung fest verankert ist. Kann auch eine absolute Mehrheit für mehrere Wahlen bedeuten.
    Egal, was passiert, eine erwartete Rezession, Budgetdefizit, Arbeitslosigkeit, … alles Corona, nicht der kleinste Fleck auf den blütenweissen Hemden der alerten Kurz-Blümel Jungs. “Keynesianische Wirtschaftspolitik by Infection”. Dieser Virus ist das größte Glück für die Kanzlerpartei!
    Wien wird “im Vorbeigehen” vom Virus mit Umweg über die Bundespolitik “umgedreht.
    Türkis forever!
    Ich wünsche Ihnen Gesundheit und weiterhin diesen einzigartigen brillanten Intellekt! Danke.

  4. Ganz selten so einen guten, objektiven Kommentar gelesen wie diesen.
    Und wenn ich heute den Leitartikel in der Presse “Das Coronavirus ist nicht nur für Hochrisikogruppen gefährlich” von Florian Asamer lese, stellt es mir die Haare auf: Es gab immer auch schon “Junge”, die beim kleinsten Lüfterl, bei einer Grippewelle u. ä. sofort schwer krank wurden oder gar starben. Das ist jetzt beim Corona nicht anders …

    Man lacht oft über alte Bauernregeln: “Was einen nicht umbringt, macht einen härter” klingt zwar provokant, hat aber auch einen wahren Kern. “Abhärtung” hat das Leben in einer rauen Welt erst ermöglicht. Aber ich weiß schon, dass diese Denke in diesen Tagen nicht wirklich angebracht ist.

    Ich hoffe – wahrscheinlich vergebens – dass wir zukünftig bei Medikamenten wieder “autark” werden. Aber über den Internethandel wird “der Markt” auch zukünftig über die Produktionsstätten entscheiden. Aber da müsste man gleich über die Globalisierung, den freien Markt und den Kapitalismus nachdenken …

  5. Herr Lingens argumentiert – in diesem Fall! – leider keineswegs rational, denn er nimmt die von China gelieferten Zahlen eben nicht ernst. Ich habe diese Zahlen in “Vernunft gegen Virus” auf meiner Website zusammengetragen. Sie ergeben ein völlig anderes Bild, als von Herrn Lingens gezeichnet.

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