Deutschland, Deutschland über alles II

Wie man das wirtschaftliche Unheil, das man selbst anrichtet, allen anderen in die Schuhe schiebt. Immer in bester Absicht. Notfalls mit Hilfe ahnungsloser Höchstrichter.

Im Vorjahr habe ich ein Buch über “Die Zerstörung der EU” durch “Deutschland als Sprengmeister” geschrieben. Da es wenige Menschen gelesen haben, möchte ich seinen Inhalt hier, extrem simplifiziert und verkürzt, dafür zusammenhängend, nacherzählen, weil er hilft, die Gegenwart besser zu verstehen.

2008 haben Mitarbeiter von US-Banken wackelige Kreditverträge in Wertpapiere verpackt und US-Rating-Agenturen haben diese Papiere mit bis zu 300 Prozent überbewertet. US-Banken haben ein Drittel dieser wertlosen Papiere erworben – die meisten davon “Lehman Brothers” das daran pleite ging. Zwei Drittel wurde von Europas Banken gekauft, wodurch eine Finanzkrise, die die USA verantworten, auf Europa übersprang – um diese Banken vor der Pleite zu retten, mussten die Staaten Europas sich verschulden.

Voran deutsche Neoliberale verbreiteten dennoch die Legende, nicht wertlose US-Wertpapiere sondern mangelnde Budgetdisziplin der EU-Staaten hätten Europas Finanzkrise bewirkt und das viele Steuergeld das zur Banken-Rettung ausgegeben wurde, müsse durch Sparen der Staaten wieder eingebracht werden.

Mehr Schaden als Nutzen

Budgetdisziplin war ihnen bis dahin durch den Maastricht-Vertrag auferlegt, der auf der Basis erwiesen falscher Berechnungen des Ökonomen Kenneth Rogoff fordert, dass sie sich nicht höher als zu 60 Prozent ihres BIP verschulden dürfen, was etwa so vernünftig ist, wie die Forderung, dass jemand der 100.000 Euro im Jahr verdient, nicht mehr als 60.000 Euro Kredit aufnehmen darf.

Da die Rettung der Banken diese Grenze überall gesprengt hatte, drangen voran Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble und Kanzlerin Angela Merkel, darauf, sie durch “Sparen des Staates” wieder zu erreichen, obwohl es denkunmöglich ist, dass weniger Einkäufe des Staates das BIP erhöhen, weil sie zwingend weniger Verkäufe der Unternehmen bedingen. Aber die Logik vermag nichts gegen die religiöse Überzeugung, dass Staatsschulden Schuld bedeuten, die durch “Sparen” getilgt werden muss.

Mit dem Austerity- Pakt verschärfte Merkel die Maastricht-Spar-Bedingungen durch die Androhung von Strafen für Zuwiderhandeln.

Der IWF, der die Erfolge dieser Politik nachmaß, stellte fest, was ich in meinem Buch vielfach belege: Es brachte der Wirtschaft mehr Schaden als Nutzen (“more harm than good”) – je heftiger gespart wurde, desto kräftiger ging das BIP/Kopf zurück. In Ländern, denen das Sparen wie Griechenland mit aller Gewalt verordnet wurde um 25%.

Die deutsche Politik war bestens gemeint – sie widerspricht nur der Mathematik.

Die überwälzten Probleme

Dass es machen Ländern, voran Deutschland aber auch Österreich oder Holland trotz dieses mathematischen Zusammenhanges gut geht, lag an einer Lohnpolitik, die abermals Deutschland vorgab. Ab 2000 erhöhten die genannten Länder ihre Löhne nicht mehr im Ausmaß ihrer gestiegenen Produktivität. Das verschaffte ihnen einen Lohnstückkosten Vorteil, der, wie ich abermals vielfach belegte, dazu führte, dass sie anderen Ländern, voran Italien mit seinen überhöhten Löhnen, aber etwa auch Frankreich, immer größere Marktanteile wegnahmen. Gleichzeitig machte man dort, um deutsche Waren zu kaufen, die Schulden, die Deutschland (Österreich, Holland) sich ersparten.

Voran die Lohnzurückhaltung erzeugte das aktuelle Nord-Süd-Gefälle.

Auch sie war nicht böse gemeint, sondern entsprang der Not: Gerhard Schröder meinte, nur durch sie die gestiegene Arbeitslosigkeit los zu werden – nur dass Deutschland sie genauso auf andere Länder überwälzte, wie es die in Deutschland vermiedenen Schulden auf sie überwälzt hat. Beides will man in Deutschland nicht wahrhaben: Man ist überzeugt, die Marktanteilsgewinne ausschließlich der überlegenen Qualität deutscher Waren zu danken, obwohl sie exakt mit der Lohnzurückhaltung korrelieren.

Deutsche können sich nicht korrigieren – sie sind gewiss, alles richtig zu machen: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.

Wider die Vernunft der EZB

Letzter Ausfluss dieser Gewissheit ist das Urteil des deutschen Verfassungsgerichtshofes über die Anleihekäufe der EZB, das ich hier neuerlich referiere: Manche Deutsche, voran Mitglieder der AfD, sind bestürzt, dass ihnen ihr braves Sparen angesichts der Geldpolitik der EZB -in Wahrheit angesichts des Überangebots an Sparkapital – keine Zinsen mehr bringt und haben Klage beim BVG eingereicht. Der sieht darin tatsächlich ein Problem, statt zu begreifen, wie richtig es ist, wenn in einer Nachfrage-Krise Geld nicht gespart sondern ausgegeben wird. Genau so wenig begreift er, dass die EZB Schadenbegrenzung betreibt, indem sie Staatsanleihen “südlicher” Länder ankauft. Obwohl sein Urteil den Grund dafür durchaus richtig festhält: Diese Länder können sich dadurch “zu deutlich günstigeren Konditionen Kredite am Kapitalmarkt verschaffen.“

In diesen günstigeren Konditionen sieht de BVG ein unverdientes Faulbett – nur Deutsche hätten sie sich verdient. Tatsächlich bekommt Deutschland sogar Zinsen für die Kredite die es aufnimmt, weil es sie sicherer als die Staaten des “Südens” zurückzahlen kann. Was daran liegt, dass es die Wirtschaft dieser Staaten durch den Austerity-Pakt und den Verlust von Marktanteilen dank Lohn-Dumping massiv beschädigt hat.

Jetzt fordert der BVG bekanntlich, dass die EZB den Sinn ihrer Politik nachweisen möge. Weil seine Richter natürlich glauben, ihn besser als die Richter des EUGH und die Ökonomen der EZB beurteilen zu können. Denn Deutsche können nun einmal alles am besten.

 

11 Kommentare

  1. Die EZB nimmt seit den klaren Worten Draghi’s “uneingeschränkt” ihre Verantwortung für Gesamteuropa war, so gut es geht. Der Merkantilismus der Nationalstaaten hilft nicht weiter. Bei den bankrotten staatlichen und privaten Fluglinien, könnte nach den nötigen Insolvenzen, ein europäischer Leitbetrieb geschmiedet werden. Wir müssen spüren, dass wir Europäer sind, die zusammenhalten. Vom Kaputtsparen und vom verfassungsrechlichem Rechtaben haben wir nichts. Von Lohndumping und ungezügelter Ressourcenverschwendung auch nicht. Transparenz kann Fehlentwicklungen aufzeigen. Deutschland und andere, die es auch gut meinen, dürfen nicht zum Hassobjekt werden. Das könnte bei der Geschichte schlimme Folgen haben.

  2. Die hier mit Leidenschaft und Scharfsinn immer wieder – vielleicht sogar zu oft? – gebrachten Thesen über die “Zerstörung der EU” seitens Deutschland haben sicherlich ihre Berechtigung. Trotzdem empfehle ich, jedesmal, wenn diese Thesen wiederholt werden, einen Blick auf ein Posting in diesem Blog vom 3. April 2020 zu werfen. Dort wurde die Buchkritik von Ewald Nowotny veröffentlicht.

    Wenn Nowotny meint, dass die Sprache des Buches nicht frei ist “von journalistischen Zuspitzungen und Übertreibungen”, so trifft das auch auf den obigen Artikel zu. Zu den Thesen meint Nowotny: “In der Gesamtsicht ist diese Perspektive zweifellos relevant, bedarf aber – entgegen der Linie des Buches – vielfacher Differenzierungen.” Auch das triff oben zu. Eine Leserin des Artikels vom 3. April kommentierte: “Herr Nowotny hat eine wohltuende Analyse sine ira et studio verfasst.” Auch das trifft zu, weil in diesem Blog betreffend Deutschland sehr viel ira et studio verbreitet wird.

    Die Unterstellung, dass sämtliches Unheil, das es heute in der Eurozone gibt, ausschließlich Deutschland anzulasten ist, finde ich dreist. Alleine von den Ziffern her ist das eine verwegene Einseitigkeit. Die Bundesbank hat derzeit rund 1 Billion Euro an Target2 Forderungen, der Großteil davon an südeuropäische Länder. Was verbirgt sich dahinter? Wenn ein nationales Bankensystem nicht ausreichend Refinanzierungen am freien Markt bekommen kann, um Leistungsbilanzdefizite und Kapitalflucht zu finanzieren, dann läuft das über den Verrechnungsmechanismus im Eurosystem, d. h. Target2. Anders ausgedrückt: ohne Target2 hätten diese Länder in den letzten 10 Jahren weder Leistungsbilanzdefizite fahren können noch Kapitalflucht ermöglichen. Beispiel: wenn ein Vermögender Italiener 10 Millionen Euro von seiner italienischen Bank zur Deutsche Bank Frankfurt überweist, dann steigen die Target2 Forderungen der Bundesbank um 10 Million Euro. Gewissermaßen funktioniert Target2 für die Defizitländer wie eine Kreditkarte ohne Limit und das Risiko liegt bei der Bundesbank. Nur grenzenlose Optimisten vertreten die Meinung, dass die 1 Billion Euro, die die Bundesbank derzeit in ihren Büchern ausweist, werthaltig sind.

    Man sollte auch nicht vergessen, dass Deutschland den größten Anteil an der Vielzahl von Rettungspaketen der letzten 10 Jahre trägt. Und last but not least, Deutschland ist der größte Nettozahler in der EU. Das sind alles Punkte, die man auch berücksichtigen sollte, bevor man Deutschland den Sprengmeister der EU nennt.

    Wenn man – wie ich – Anfang der 2000er Jahre in Deutschland gelebt hat, dann weiß man, in welcher Verfassung sich Deutschland damals befand. Über 5 Millionen Arbeitslose, starre Wirtschaftsstrukturen und ein treffendes Buch von Hans-Werner Sinn mit dem Titel “Ist Deutschland noch zu retten?” Nicht umsonst wurde damals Deutschland der “kranke Mann der EU” genannt.

    Und jetzt soll man glauben, dass sich damals in Deutschland teuflische politische Eliten zusammengetan haben mit der Absicht, den südlichen Mitgliedsstaaten wirtschaftlich eins auszuwischen? Da gehört schon sehr viel negative Fantasie dazu. Kann denn der Staat einem hidden champion aus Baden-Württemberg vorschreiben, dass er Lohnzurückhaltung machen soll? Ich hatte damals im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit mit unzähligen solchen Unternehmern in Süddeutschland Gespräche geführt. Deren Fokus war nicht Südeuropa. Ihr Fokus war primär der Weltmarkt und man nahm sich vor – im Gegensatz zu vielen Ländern, die in den letzten 10 Jahren gelitten haben -, auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu sein. Und erfolgreich waren sie hauptsächlich am Weltmarkt: der Anteil der EU Exporte an Deutschlands Gesamtexporten sank in den 2000er Jahren ganz deutlich. Dass eine Volkswirtschaft, die am Weltmarkt erfolgreich ist, dann besondere Vorteile in jenen Ländern hat, für die der Weltmarkt egal ist, ist ein collateral benefit. Anders gefragt: wie hätte Deutschland sich aus seiner wirtschaftlichen Misère retten können, wenn nicht über den Weltmarkt?

    Der deutsche Staat hätte damals mehr investieren sollen? Also bitte! Der erste und größte Sündenfall in der Eurozone war, dass Deutschland und Frankreich die ersten beiden waren, die die Maastricht Ziele gerissen haben, ohne dabei irgendwelche Konsequenzen tragen zu müssen. Dass war ein Dammbruch! Und dieser Damm hätte noch mehr gebrochen werden sollen?

    Nochmal: man kann Deutschland für vieles kritisieren und die Thesen über die “Zerstörung der EU” sind durchaus nicht von der Hand zu weisen. Man sollte es aber distanziert und differenziert machen und immer alle Seiten des Themas beleuchten. Und dies – bitteschön – mit möglichst wenig ira et studio und nach Möglichkeit ohne journalistische Zuspitzungen und Übertreibungen.

    1. Ewald Nowotny hat Recht, dass das Buch Thesen “journalistisch zuspitzt” – er hält allerdings fest, dass es richtige Thesen sind. Ich denke, dass man manches zuspitzen muss, damit es verstanden wird. Dass ausschließlich Deutschland Fehler begangen hat, behauptet das Buch allerdings in keiner Weise: Italiens, Spaniens oder Griechenlands eigenen Fehlern sind zahlreiche Seiten gewidmet.
      Ich behaupte nur dass die beiden zentralen Fehler, die die EU derzeit wanken lassen, nämlich “Sparen des Staates” und “Lohnzurückhaltung” von Deutschland durchgesetzt wurden und werden.

      Es fehlt hier an Platz um auf Ihre Missverständnisse in Bezug auf Target einzugehen, – die Nowotny im Übrigen nicht teilt. Ich empfehle entsprechende Texte auf http://www.makroskop.de
      Aber ein anderes Missverständnis kann ich hoffentlich leicht aufklären: Sie meinen, dass Italien (von dem auch mein Buch sagt, dass seine Löhne überhöht waren) sie ja genau wie Deutschland reduzieren hätte könne, was hieße, sie auch unterhalb des Produktivitätszuwachses zu belassen. Natürlich wäre das möglich; Alle Länder der EU hätten ihre Löhne unterhalb des Produktivitätsanstieges halten können- Europas Kaufkraft wäre dann entsprechend gewaltig gesunken. Wer hätte dann die mehr produzieren Güter zum Beispiel Deutschlands kaufen sollen und können? Alles die Chinesen oder die Amerikaner?
      Der Sinn, Löhne im Ausmaß der gestiegenen Produktivität zu steigern, besteht nämlich genau darin: Sicherzustellen, dass genau so viele Waren, wie mehr produziert werden, auch mehr gekauft werden können. So hat die EU jedenfalls bis 2000 erfolgreich funktioniert.

      1. Ich sollte meinen Standpunkt wohl noch einmal verdeutlichen, um Missverständnisse zu vermeiden.

        Ich habe es in meinem Kommentar gesagt und ich sage es wieder: ich teile viele Ihrer Ansichten über die deutsche Wirtschaftspolitik. Seit den Wirtschaftswunderjahren ist in den Köpfen der Deutschen verankert, dass Weltrekorde bei Handels- und Leistungsbilanzüberschüssen ein Gütesiegel sind. Was in diese Köpfe noch nicht eingedrungen ist, ist, dass Leistungsbilanzüberschüsse zur Konsequenz haben, dass man die Defizitländer finanzieren muss und dass man dabei viel Geld verlieren kann. Ein Thinktank hatte seinerzeit errechnet, dass die deutsche Volkswirtschaft in den 5 Jahren nach Lehmann rund 500 MrdEUR an Auslandsvermögen verloren hat (sub-prime, Lehman, Island, etc.). Diese Verluste spielten sich allerdings auf unteren Ebenen ab (Banken, Versicherungen, etc.), sodass sie für den Bürger nicht direkt spürbar waren. Aber Verluste an Nationalvermögen waren es trotzdem. Soviel zu den Nachteilen einer Besessenheit mit Leistungsbilanzüberschüssen.

        Bei den Staatsausgaben hatte Deutschland in den 2000er Jahren kaum Spielraum. Im Gegenteil, nachdem Deutschland (sowie Frankreich auch) die Maastricht-Grenze gerissen hatte, hagelte es Kritik an der deutschen Fiskalpolitik. Anders verhielt es sich allerdings in den 2010er Jahren, als Deutschland mutwillig auf Sparen des Staates setzte und dieses Rezept sozusagen in die Eurozone exportierte. Aus deutscher Sicht war die Rechtfertigung: “The boom, not the slump, is the right time for austerity at the Treasury (Keynes).” So richtig das ist, in einer Gemeinschaftswährungszone müssen auch andere Überlegungen angestellt werden.

        Meine ich, dass Italien eine ähnliche Politik wie Deutschland verfolgen hätte sollen? Na ja, falsch wäre es sicherlich nicht gewesen, wenn sich auch Italien (und andere) mehr auf den wachsenden Weltmarkt konzentriert hätte anstelle des verteilten Binnenmarktes. Hätte das die Kaufkraft in der Eurozone reduziert? Nicht zwingend. Es ist noch gar nicht so lange her, dass Italien und Frankreich auf dem Weltmarkt absolut auf Augenhöhe mit Deutschland lagen. Auch ein Erfolg auf dem Weltmarkt schafft Kaufkraft. Jetzt könnte man argumentieren, dass man – wenn alle Länder dieser Erde diese Exportpolitik verfolgten – dass man dann einen neuen Planeten als Handelspartner finden müsste, der diese Exporte kauft und den man natürlich auch finanzieren müsste. Die Wirklichkeit ist aber etwas differenzierter. Solange die USA – dank Ihres ‘exorbitant privilege’ – gigantische Leistungsbilanzdefizite verzeichnen, wird der Rest der Welt gigantische Überschüsse gegenüber den USA verzeichnen. Ich sehe keinen Grund, weshalb nur hauptsächlich China und Deutschland von diesen Überschüssen profitieren sollten. Um einen Anteil an diesen Überschüssen muss man sich natürlich bemühen.

        Ja, wenn eine einzelne Person in einem vollbesetzten Kino aufsteht, kann sie besser sehen. Machen das alle Besucher nach, sieht keiner besser, obwohl jetzt alle stehen müssen. Das kann natürlich auch als Totschlagargument verwendet werden. Ich halte den ausschließlichen Fokus auf die makro-Ebene für gefährlich, weil man dabei riskiert, den Blick auf die mikro-Ebene zu verlieren. Umsatzerlöse und Betriebskosten finden ausschließlich auf der mikro-Ebene statt. Nur auf der mikro-Ebene kann man Entscheidungen treffen, die zu sofortigen Ergebnissen führen. Auf der makro-Ebene kann man nicht – beispielsweise – entscheiden “wir reduzieren den Leistungsbilanzüberschuss”. Trump glaubte, er könnte per Dekret das Defizit mit China eliminieren. Die Ergebnisse sind bekannt. Man kann auf der makro-Ebene nur Maßnahmen und Incentives schaffen in der Hoffnung, dass diese auf der mikro-Ebene die gewünschte Reaktion hervorrufen. Wenn sich auf der mikro-Ebene die Rechnung “Umsatzerlöse minus Betriebskosten” nicht mehr positiv ausgeht, dann werden die Kosten gekürzt bzw. Personal abgebaut und Produktion verlagert. Bevor die mikro-Ebene existenzbedroht wird, ist es nicht überraschend, dass Maßnahmen getroffen werden, die die mikro-Ebene stärken, selbst wenn sie makro-ökonomisch unerwünschte Konsequenzen haben. Selbst mit dem Vorteil des Rückblicks weiß ich heute nicht, was Deutschland Anfang der 2000er Jahre anders machen hätte können. Die SPD hatte auch keine besseren Ideen.

        Ralf Dahrendorf hatte in einem Spiegel-Interview im Dezember 1995 (!) gesagt: “Das Projekt Währungsunion erzieht die Länder zu deutschem Verhalten, aber nicht alle Länder wollen sich so verhalten wie Deutschland. Für Italien sind gelegentliche Abwertungen viel nützlicher als feste Wechselkurse, und für Frankreich sind höhere Staatsausgaben viel sinnvoller als starres Festhalten an einem Stabilitätskriterium, das vor allem Deutschland nützt.” Heute wissen wir, dass Dahrendorf prophetisch war.

        Über Target2 sind unzählige akademische Analysen verfasst worden. Für jeden Artikel von Hans-Werner Sinn gibt es ein halbes Dutzend Gegenartikel. Der pragmatische Ansatz wären folgende Fragen: (a) wer hat nach dem ‘sudden stop’ Griechenlands Anfang 2010 die andauernden Leistungsbilanzdefizite und die relativ große Kapitalflucht finanziert? Und (b) wenn Target2 Verbindlichkeiten nicht vergleichbar sind mit den offenen Posten einer Kreditkarte, warum verbucht die Bank of Greece Target2 als Verbindlichkeiten? Natürlich sind negative Salden auf einem Verrechnungskonto nicht das gleiche wie ein dokumentierter Kredit, aber negative Salden sind es trotzdem. Ich habe Target2 sehr oft mit meinem langjährigen Freund Ewald Nowotny diskutiert. Er würde natürlich nie meine Wortwahl von der ‘Kreditkarte mit unbegrenztem Limit’ verwenden, aber meine Ansicht, dass Target2 Verbindlichkeiten durch Leistungsbilanzdefizite und Kapitalflucht entstanden sind, teilt er voll und ganz.

  3. Michael Lingens ist auf einem Auge blind, das verleiht seinen Erkenntnissen so viel Überzeugungskraft. Sparen kann das BIP nicht erhöhen, das sei schlicht Logik und Mathematik? Sehr richtig, aber Schulden müssen von kommenden Generationen zurückgezahlt werden, das mindert das BIP und trifft vor allem die Armen. Lieber Herrn Lingens, leider ist auch das Logik und Mathematik, umso mehr als gerade Staatsverschuldung eher selten zu Investionen führt, die das Wachstum dauerhaft erhöhen (nur dann ist sie segensreich!). Und zu Schröders Politik bemerken Sie zwar richtig, dass der erzwungene Verzicht auf Lohnerhöhung in Deutschland – damals als “kranker Mann Europas” belächelt – die Arbeitslosigkeit erfolgreich beseitigt habe, aber warum stellen Sie nicht – logischerweise! – ebenso fest, dass Italien, hätte es eine ähnliche Politik der Lohnzurückhaltung betrieben, keinen Schaden erlitten hätte, sondern im Gegenteil auf dem Weltmarkt dann ebenso erfolgreich wie Deutschland geworden wäre? Gewiss machen Deutschland und Österreich vieles falsch, an ihrem Wesen wird die Welt wohl kaum genesen. Nun gut – sich als Leser zu Michael Lingens zu äußern, verschafft besondere Genugtuung, weil er als kritischer Geist kritische Kommentare so sehr schätzt, wohl wissend daß ein Mensch mit Geist am meisten von Widerspruch lernt und nicht von Lobhudelei.

    1. Dass “künftige Generationen, die Schulden zurückzahlen müssen”, zeigt mir, dass Sie Mathematik noch immer negieren: Die “künftigen Generationen” erben ja nicht nur die Schulden, sie erben genauso die Guthaben, die ihnen exakt entsprechen.

      1. Sehr geehrter Herr Lingens, dann erklären sie mir einmal welche Guthaben die “künftigen Generationen” erben, die, ihrer Argumentation nach, entstehen wenn die italienische Regierung Schulden macht um Jahr für Jahr die Alitalia mit hunderten Millionen Euro zu subventionieren?

      2. Vorsicht! Was auf der makro-Ebene stimmt, kann zu extremen Ungleichgewichten auf der mikro-Ebene führen. Es geht um das Prinzip der unterschiedlichen Taschen. Die Schulden sind nur selten in der gleichen Tasche wie die Vermögenswerte. Griechenland’s Staatsschulden sind beispielsweise zu mindestens 90% in ausländischem Besitz. Der Schuldendienst muss von den Griechen geleistet werden, die Vermögenswerte und die Rendite darauf gehören Ausländern. Und so werden sie auch vererbt.

  4. Sie haben dafür kaputte Straßen, schadhafte Schulgebäude, sanierungsbedürftige Brücken, kleine Renten mit denen die Menschen nicht leben können, Harz irgendwas und eine Bundesmutti die das Land und die EU moderiert.

  5. Die EZB darf keine Staaten finanzieren, tut es aber ziemlich direkt, indem sie ca. ein Drittel aller Euroraum Staatsanleihen aufkauft. Wenn man das gut findet, sollte man die Verträge ändern und das explizit ermöglichen. Der deutsche VGH insistiert nur, im Gegensatz zum EuGH, dass die Gesetze eingehalten werden. Herr Lingen hat in vielem Recht, allerdings leidet er sn einer Anti Deutschen Obsession und so sind an allem die Deutschen schuld. Nicht die zu stark steigenden Löhne in Italien oder Frankreich, nicht deren überbordene Bürokratie, nicht die Korruption und Mafia in Italien etc.

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