Amerikas weißer Mittelstand erlebte den Aufstieg eines schwarzen Mittelstandes zugleich mit dem eigenen Abstieg. Nur bei der Polizei hat er Schwarzen noch etwas voraus.
Die Berichterstattung des ORF (des Teams der ZIB2) von den Rassenunruhen in den USA war, wie des Öfteren, intensiver als die von Sendeanstalten mit ungleich größeren Budgets. Die Worte seines schwarzen Kameramanns beschrieben die Dimension des Konfliktes, das Verfahrene der Situation und das Versagen Donald Trumps präziser und kürzer als jeder Experte. Und eindringlicher als der 12jährige Keedron Bryant mit dem Song “I just wan´a live” kann man das Leid der schwarzen Bevölkerung nicht vermitteln: Man spürte die Ketten an den Handgelenken seiner Vorfahren.
Dieser Berichterstattung, Bryants Video auf YouTube und der leichten Verabredung per Handy dankten es die überraschten Initiatoren, dass fünfzigtausend Menschen in Wien auf die Straße gingen, um (zwar unter kritischem Verzicht auf den Meter Abstand) das seit Jahrzehnten eindrucksvollste Zeichen gegen Rassismus zu setzen. Ein deshalb so positives Zeichen, weil aus Transparenten und Befragungen der Teilnehmer kein Zweifel daran bestand, dass sie nicht nur den Rassismus meinten, der George Floyd die Luft zum Atmen genommen hat, sondern sich durchaus daran erinnerten, dass auch Marcus Omofumo nicht mehr atmet, weil österreichische Polizisten ihm den Mund verklebten.
Rückschritt im Fortschritt
Wenn man so jung wie die meisten Demonstranten ist, muss es einen erschüttern, dass der Rassismus in den USA noch immer so groß ist. Wenn man so alt wie ich ist, sieht man trotz Floyds Tod den gewaltigen Fortschritt. Als ich vor vierzig Jahren auf Grund einer Einladung des State Department für zwei Monate die USA bereiste und dem Rassenkonflikt dabei natürlich besondere Aufmerksamkeit schenkte, herrschte in Alabama immer noch Erregung darüber, dass 1956 der erste schwarze Student eine dortige Universität betreten hatte. Heute gibt es mehr schwarze Rechtsanwälte als ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Es gibt einen beträchtlichen schwarzen Mittelstand. Schwarze sind selbstverständlich Bürgermeister, Generäle oder Minister, und mit Barack Obama gab es trotz allem Rassismus den ersten schwarzen Präsidenten,
Am Anfang dieser unglaublichen Fortschritte stand eine revolutionäre oberstgerichtliche Entscheidung: Weil Schwarze und Frauen durch Jahrhunderte diskriminiert worden wären, so urteilte der US-Supreme Court, sei es zulässig und notwendig, Schwarze und Frauen solange zu bevorzugen, bis echte Gleichberechtigung erreicht sei.
Dieses Urteil hatte gesetzliche Konsequenzen, die ich zwei Monate hindurch recherchierte:
- Schwarze und Frauen mussten trotz schlechterer Noten als Weiße und Männer an Universitäten aufgenommen werden und konnten diese abschießen. Das erklärt den gewaltig gewachsenen Mittelstand. Obwohl es auch zur Folge hatte, dass selbst Schwarze sich nicht von schwarzen Ärztinnen behandeln lassen wollten, weil sie ihrem Können misstrauten.
- Unternehmen, die Staatsaufträge erhielten, mussten zu jedem Weißen auch einen Schwarzen zum Facharbeiter ausbilden, obwohl Schwarze den viel geringeren Anteil der Belegschaft stellten. Auch das stärkte den schwarzen Mittelstand- und erzürnte Weiße, die nicht Facharbeiter wurden.
- Zeitungen sahen sich verpflichtet, schwarze Journalistinnen zu beschäftigen. Nur dass ich Redaktionen erlebte, in denen der weiße Chef des unerheblichsten Ressorts (“Haus und Garten”) jeden Text seiner durchwegs schwarzen Mitarbeiterinnen sofort in den Papierkorb warf. Als ich ihn fragte, was das sollte, hieß er mich einen beliebigen Text herausfischen und lesen: Er war absolut unbrauchbar. Alles was gedruckt wurde schrieb er selbst.
“Ist die Art und Weise, in denen die USA Gleichberechtigung durchsetzen, nicht doch ziemlich naiv?”, fragte ich an Hand dieser Beispiele jenen Mitarbeiter der US-Botschaft, der meine Reise vermittelt hatte. Der Sohn eines jüdischen Budapester Theaterdirektors und vermutliche Leiter der CIA in Osteuropa gab mir darauf eine Antwort, die ich bis heute für weise halte: “Wurden große Fortschritte der Menschheit nicht fast immer nur auf naive Weise erzielt?”
Das letzte verbliebene Privileg
Donald Trump wird zweifellos nicht zuletzt von jenen zornigen weißen Männern gewählt, die nicht zu Facharbeitern ausgebildet wurden und keine Studien abschlossen.
Der aktuelle Rückschlag im Verhältnis von Schwarzen und Weißen wäre nicht so augenfällig, wenn Barack Obama nicht einen so augenfälligen Fortschritt signalisiert hätte. Er wäre vor allem nicht so lebensgefährlich, wenn der weiße Mittelstand der USA weiterhin wirtschaftlichen Aufstieg erlebt hätte, auch wenn sein wirtschaftlicher Vorsprung gegenüber den Schwarzen schrumpfte.
Aber das Gegenteil war der Fall. In einem Wirtschaftssystem, das seit jeher auf maximale Ungleichheit setzte, gelangt derzeit, wie überall auf der Welt, eine immer kleinere Oberschicht zu so exzessivem Reichtum, dass kein Platz mehr für wachsenden Wohlstand von Mittelstand und Unterschicht bleibt. Die Forderung der US-Gründerväter nach dem “größtmöglichen Wohlstand der größtmöglichen Zahl” wird seit Jahrzehnten nicht mehr erfüllt: Erstmals zählt eine große Zahl Weißer unter die wirtschaftlichen Absteiger; unter die Deklassierten.
Weiß zu sein ist ihr letztes verbliebenes Privileg. Polizist zu sein ist eine letzte Gelegenheit, es zu realisieren: man kann zu einem sicheren Gehalt einen Schwarzen anhalten, ihn zwingen, sich mit Händen am Rücken vor einem niederzuknien und ihn schlagen, wenn er nicht pariert.
4 Kommentare
Danke für die Zwischentöne – Einblicke in die Alltagsrealität, über die nur selten jemand berichtet. Man versteht dann manches ein wenig besser.
Das ist sehr richtig gesehen. “Wir haben vier Millionen Industriearbeitsplätze verloren, vor allem in Ohio, Michigan, Pennsylvania, Wisconsin und Missouri [Staaten, in denen Trump zur allgemeinen Überraschung gewonnen hat, wenn auch sehr knapp]. Je mehr wir so tun, als sei Mr. Trump die Ursache all unserer Probleme, desto mehr zweifeln die Amerikaner an unserer Fähigkeit, ihre täglichen Probleme wahrzunehmen und zu lösen” (Demokratische Debatte in Los Angeles, 19. Dezember 2019)… Für die gebildete, städtische obere Mittelschicht, die vor allem in New York und Kalifornien Demokraten wählt, ist die Tatsache, dass arme, weiße, ungebildete Menschen für Trump votieren, ein weiterer Grund, sich für sie schon gar nicht mehr zu interessieren… Obama hat sich mit afroamerikanischen Proletariern solidarisch erklärt, sie mit Symbolen und schönen Worten eingelullt, aber er hat nie gegen eine Wirtschaftsordnung gekämpft, die diese Schicht zermalmt (Aus “Le Monde Diplomatique”).
Es gibt auch eine andere Sicht der Dinge, der ich nicht voll zustimme. Aber ganz falsch ist diese Meinung auch nicht. Wenn Hr Floyd den Polizisten umgebracht hätte, würde keiner für ihn demonstrieren.
https://youtu.be/bGxaKHf9T80
In den USA gibt es ca. 13% Schwarze und 61% Weiße. Drogensüchtige, Alkoholiker, absolut Arme und Underdogs in beiden Bevölkerungsgruppen verteilen sich zu ziemlich in %-Anteilen der 13 bzw. 61%. Nur beim Anteil – in absoluten Zahlen – der (schwer) Kriminellen führen sogar die Schwarzen knapp.
Jetzt kann man viel auf Diskriminierung und Historie zurückführen – aber sicher nicht alles. Klar rechtfertigt das alles keine Tötung eines Menschen durch einen andern. Dennoch ist ein “Staatsbegräbnis” mit goldenem Sarg und Abbildungen des Getötenden mit Engelsflügel, der nachweislich verurteilter Schwerverbrecher war (2x Raubüberfall, verschiedene Drogendelikte), nicht wirklich ideal, zumal viele unschuldige Menschen – auch Polizisten – von Gangstern umgebracht wurden (übrigens auch bei uns) und denen ein solche Ehre nicht zu Teil wurde.
Wie tief muss der Hass auf Trump sitzen, auch von Ihnen sehr geehrter Herr Lingens, dass Sie jede Form von Objektivität vermissen lassen. Eines wird leider kaum erwähnt: Die “Linke” – nicht nur bei uns – lässt sich in den US-Präsidentschaftswahlkampf, der bereits begonnen hat, voll einspannen. Sonst wäre die Tötung eine Schwarzen durch einen weißen Polizisten bestenfalls in lokalen Newspapern berichtet worden, bin ich überzeugt.