Seit Dienstag überprüft die EU offiziell die Staatsschulden-Kriterien von Maastricht: Die 60-Prozent-Schuldengrenze hat reelle Chancen im Papierkorb zu landen
Noch ringen Grüne, FDP und SPD in Deutschlands Koalitionsverhandlungen um eine gemeinsame Haltung zur “Schuldenbremse”. „Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat seine Flexibilität bewiesen“, heißt es in dem Papier, das die Parteien zum Ende der Sondierungsgespräche erstellt haben. Worin aber besteht die Flexibilität des “Sparpaktes”, wie er seit seiner Verstärkung durch eine Strafdrohung viel treffender heißt? Darin dass er Gottseidank seit März 2020 ausgesetzt ist, weil klar war, dass es unmöglich ist, dem Covid-19 bedingten Wirtschaftseinbruch ohne Mehrverschuldung zu begegnen.
Die Deutschen mussten das seit der Wiedervereinigung am besten wissen: sie brachen die Spar-Kriterien des Paktes als erste, weil sie den Nachholbedarf der Ostgebiete sonst nicht bewältigt hätten. Spätestens angesichts der “Finanzkrise” hätten sie freilich begreifen können, dass es sich dabei um eine grundlegende ökonomische Gesetzmäßigkeit handelt: Wenn die Wirtschaft stark wachsen soll, darf der Staat nicht sparen. Selbst der konservative internationale Währungsfonds erkannte nach Prüfung der Wirtschaftsdaten der EU, dass “Austerity” ihr “mehr schlecht als gut” getan hat. Und jedermann kann das jederzeit an Hand eines Vergleichs mit den USA feststellen: Überragte deren BIP pro Kopf das der Eurozone 2009 am Höhepunkt der Finanzkrise um 12.442 Dollar, so hatte sich dieser Abstand dank “Austerity” bis 2017 auf 15.350 Dollar vergrößert, und während in den USA bis zur Pandemie Vollbeschäftigung herrschte, ächzte die Eurozone unter 9,6 Prozent Arbeitslosigkeit.
Aber Angela Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble zeichneten sich, wie Österreichs Sebastian Kurz und seine Finanzminister, dadurch aus, Zahlenvergleichen im Verhältnis zu ihrem Glauben an den Segen der Schuldenbremse keine Bedeutung zuzumessen. Ich will nicht zum x-ten Mal wiederholen, warum die Saldenmechanik den Widersinn der Schuldenbremse mathematisch beweist, sondern nur erfreut festhalten, dass die EU-Kommission vergangenen Dienstag endlich offiziell eine Überprüfung des “Stabilitäts- und Wachstumspakts” eingeläutet hat. Der Chef des Euro-Krisenfonds, Klaus Regling hat im Gespräch mit dem Spiegel sogar offen für eine Anpassung der “nicht mehr zeitgemäßen” Regeln zum Schuldenstand geworben. Daher bin ich guter Hoffnung, dass die “Überprüfung” folgendes ergeben wird: Die jährliche Mehrverschuldung bleibt zwar weiterhin mit drei Prozent des PIB begrenzt, aber die Schuldengrenze von 60 Prozent des BIP wird ad acta gelegt- und die Schuldenbremse hoffentlich mit ihr.
In Deutschland hängt ihr FDP-Chef Christian Lindner freilich ähnlich unkritisch an wie Sebastian Kurz, während der Grüne Robert Habeck um ihre grundsätzliche Problematik weiß: Die Wirtschaft könne nicht wachsen, so erklärte er im Fernsehen nicht anders als ich, wenn Konsumenten, Unternehmen und Staat gleichzeitig sparten – da Konsumenten und Unternehmen das derzeit täten, müsse der Staat sich verschulden. In der Theorie kann es zwischen Habeck und Lindner daher keinen Kompromiss geben – in der Praxis werden wir ihn erleben: sie werden sich um Klarheit im dieser Frage drücken – die EU wird sie an ihrer Stelle im Sinne Habecks schaffen, indem die unsinnige 60 Prozent-Grenze fällt.
Zum Beleg des Prädikats “unsinnig” ein letztes Mal das Beispiel eines Mannes, der sich trotz eines Monatsverdienstes von 5.000 Euro netto nie eine Wohnung kaufen könnte, wenn er diese Grenze einhielte und eine kurze Wiederholung ihrer Herkunft: der Ökonom Kennet Rogoff behauptete, dass er an Hand zahlloser Volkswirtschaften beobachtet hätte, dass eine Staatsschuldenquote von über 90 Prozent das Wirtschaftswachstum um 0,1Prozent verringert – aber ihm wurde ein simpler Rechenfehler nachgewiesen und er hat mehrere Volkswirtschaften nicht berücksichtigt, die seiner These widersprachen. Die 60 Prozent des Austerity-Paktes kommen aber selbst in seiner falschen Rechnung nicht vor – sie sind eine freie Erfindung, von der sich die EU hoffentlich spätestens 2023 dezidiert trennen wird.
Dass sich Sebastian Kurz und Gernot Blümel aus Eigenem von der Ausgabenbremse trennen, obwohl sie aus psychologischen Gründen höchst populär ist, ist leider unwahrscheinlich. Zumal ihr der vergangener Berater im Institut für Wirtschaftsforschung Christoph Badelt ebenfalls anhing und der geplante künftige Chef des Instituts für höhere Studien Lars Feld sie mit Nachdruck verficht. Wenn wir uns nach den Genannten richten, ginge Österreichs Wirtschaft zwar trotzdem nicht unter, weil wir aus Gründen, die ich auch schon öfter angeführt habe, über besonders viele besonders gute Klein- und Mittelbetriebe verfügen und unsere Konkurrenzfähigkeit zusätzlich zu Lasten Frankreichs und des “Südens” unfair durch “Lohnzurückhaltung” gesteigert haben – aber sie wüchse weit weniger als ohne Schuldenbremse.
Zudem bewältigten wir die Herausforderungen des Klimawandels und der Digitalisierung unter der Voraussetzung fortgesetzten Sparens des Staates weit schlechter. Allein der “Green Deal”, so errechnete die Frankfurter Allgemeine Zeitung, erfordere bis 2030 öffentliche und private Investitionen von rund 500 Milliarden Euro jährlich – also auch viele Milliarden Österreichs. Mit etwas Glück löst die EU das für uns, indem sie erlaubt, Klimaschutz-Investitionen “herauszurechnen”. Im EU Papier zu Überprüfung des Austerity-Paktes wird diese Möglichkeit jedenfalls erörtert.
2 Kommentare
Sehr geehrter Herr Lingens, ich empfehle Ihnen den Kauf des in diesem Artikel besprochenen Buches von Antony P. Mueller.
https://www.misesde.org/2021/11/kapitalismus-sozialismus-und-anarchie/
Rund um den Irrtum mit der Richtigkeit der StützelschenSaldenmechnik
“Zudem bewältign wir die Herausforderungen des Klimawandels und der Digitalisierung unter
der Voraussetzung fortgesetzten Sparens des Staates weit schlechter. Allein der „Green Deal“, so errechnete die Frankfurter Allgemeine Zeitung, erfordere bis 2030 öffentliche und private Investitionen von rund 500 Milliarden Euro jährlich – also auch viele Milliarden Österreichs. Mit etwas Glück löst die EU das für uns, indem sie erlaubt, Klimaschutz-Investitionen.” herauszurechnen“.
Die sg, “Klimachutzinvestitionen” sind ja keine Investitionen. Denn Investitonen mässen sich “rechnen”, was heißt, aus Geld mehr Geld zu machen! Und das ist nur möglich, wenn das, was da letztlich herauskommt, verkonsumiert, VERbraucht, zu Abfall wird. Diese Kimaschutzinvestitionen fühern gerade nicht zu Nachhaltigkeit, sondern zu Verrschwendung der Naturressourcen, zur Plünderung des Paneten..
Wenn sich Lingens auf die Saldenmechanik beruft, so sitzt er einem Irrtum auf. Dies geht davon aus, dass die Wirtschaft dann bestens funktioniert, wenn all das volltändig ausgegeben wird, was Haushalte, Unternehmen und Staat einnehmen. Dann wird das Gleichgwicht zwischeh Einnehmen und Ausgaben erreicht.
Das aber beschreibt nicht unsere Wirtschaft, in der aus Geld mehr Geld gemact werden muss. Wo dieses Geld für den Mehrwert herkommt, hat weder Marx, Rosa Luxemburg, ….J.M. Keynes gezeigt. Er st die Postkeynesianer Michal Kalecky und Joan Robinson zeigen das auf-
So sagt Joan Robinson in Korrektur der Keynes-Formel:
„Der Überschuss der Einnahmen aus dem Verkauf von Konsumgütern über deren Lohnsumme ist gleich der Lohnsumme im Investitionssektor. Die Gewinnspanne beim Verkauf der Konsumgütern hindert die Arbeiter (im KG-Bereich, E.D.) daran, ihr gesamtes eigenes Produkt zu konsumieren und ermöglicht den Arbeitern im Investitionssektor, am Konsum teilzuhaben.“ (J. R., Über Keynes hinaus, 1967, S. 99).