Lebenslüge Neutralität

Neutralität hat weder die Schweiz noch Österreich vor Krieg geschützt. Ernstgenommen kostet sie mehr und nützt weniger als ein NATO-Beitritt. Aber Trittbrettfahren geht.

Letztlich wird sich Recep Tayyip Erdogan seinen Widerstand gegen den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands abkaufen lassen. Trotzdem muss man nachdenken, ob der Zwang zur Einstimmigkeit hier nicht ähnlich hinderlich wie in der EU ist und durch die Forderung nach einer (gemäß Bevölkerung gewichteten) Dreiviertel-Mehrheit ersetzt werden sollte. NATO oder EU sind zu wichtig, sich durch “Einstimmigkeit” selbst zu lähmen. Schließlich stärkten die Armeen Schwedens und Finnlands die NATO an ihrer sensiblen Ostflanke entscheidend. Wladimir Putin wird zwar seine Atomraketen näher an ihre Grenze rücken, aber das ist unproblematisch: Atomwaffen sind noch in keinem der zahllosen seit Nagasaki geführten Kriege zum Einsatz gekommen – die Angst davor stabilisiert im Gegenteil den Frieden unter den Atommächten.

Dass Finnland und Schweden ihre Bündnisfreiheit aufgeben, ist fast ausschließlich Putin zuzuschreiben. Russland hat Finnland zwar auch im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes überfallen und nur “ukrainischer” Widerstand der Finnen hat sie vor gravierenden Gebietsverlusten bewahrt, aber bis zum Ukrainekrieg glaubten sie sich vor einer Wiederholung sicher. Jetzt waren  sie noch mehr als die Schweden für den raschen NATO-Beitritt.

In Österreich will außer den Neos niemand die Neutralität auch nur diskutieren. Klaudia Tanner (ÖVP)erklärte sie zur “Herzenssache”, Pamela Rendi Wagner (SPÖ) und Werner Kogler (die Grünen) wollen sie allenfalls aktiver gestalten – nur Nikolaus Scherak (Neos) hält sie für überholt. Ein NATO-Beitritt kommt für alle Parteien so wenig in Frage wie für FP-Chef Herbert Kickl.

Der Grund ist klar: Auch in jüngsten Umfragen lehnen drei Viertel der Österreicher einen NATO -Beitritt ab und sind überzeugt, in Neutralität den besten Schutz vor Krieg zu besitzen. Unter dem Titel “Wehrloses Österreich” habe ich beides 2000 in einem Buch hinterfragt: Die Neue Zürcher Zeitung rezensierte es auf einer halben Seite – in Österreich nahm niemand davon Notiz. Freilich kann  man auch jedem Geschichtsbuch entnehmen, dass Neutralität nicht vor Krieg schützt. So überfiel Adolf Hitler der Reihe nach folgende neutralen Länder: Luxemburg, Belgien, Holland, Dänemark und Norwegen, während Josef Stalin das neutrale Finnland überfiel. Wie die neutrale Schweiz einem Überfall entging, ist besonders lehrreich: Als der führende Schweizer Militär, Henri Guisan befürchtete, Hitler würde sie demnächst angreifen, wandte er sich unter krasser Verletzung der Neutralität an Frankreichs Oberbefehlshaber General Gamelin und vereinbarte mit ihm auf 18 Seiten einen Militär-Pakt – in der offiziellen Schweizer Geschichtsschreibung ohne Wissen seiner Regierung. Die hatte indessen das rasende Glück, dass General Erich von Manstein, der die Invasion Frankreichs plante, es für viel erfolgreicher hielt, seine Panzer statt über die Schweiz über die Benelux-Staaten vorzustoßen zu lassen, weil deren Ardennen für “nicht Panzergängig” gehalten wurden. Der Vorstoß gelang bekanntlich, und die deutschen Panzer durchbrachen wenig später auch Frankreichs hoch befestigte Maginot- Linie – nicht zuletzt weil große Teile der französischen Truppen an der Grenze zur Schweiz postiert waren. Ein zweites Mal bestand das Risiko, dass Hitler die Schweiz angreifen könnte, als nicht klar war, dass sein Waffenstillstand mit Frankreich hält. Abermals glaubte kein Schweizer, dass er die Neutralität respektieren würde und Angst machte sich breit. Da trat abermals Guisan auf den Plan: Er sei zwar hoffnungslos, so argumentierte er, Bern oder Zürich in einer Panzerschlacht zu verteidigen, aber eine Gebirgsregion sei als “Reduit” zu halten und könne die Regierung schützen. Das war das Rezept, nach dem General Emil Spannocchi ab 1973 Österreich verteidigen wollte und es wurde bekanntlich nie auf die Probe gestellt: Österreich war sicher, weil ein Aggressor immer befürchten musste, dass die NATO sein Gebiet nicht kampflos preisgeben würde – ein Regierungsmitglied hatte sich dessen bei Gesprächen mit den USA versichert. Auch in der Schweiz wurde Guisans Rezept nicht auf die Probe gestellt: Der Waffenstillstand mit Frankreich hielt- Hitler brauchte die Schweiz nicht. Allerdings haben deutsche Generäle immer “auch” darauf hingewiesen, dass eine Eroberung relativ aufwendig wäre.

Alle im 2.Weltkrieg Überfallenen, von Luxemburg bis Norwegen, gehören heute der NATO an – einzig die so glücklich verschonte Schweiz blieb neutral. Allerdings schwer bewaffnet: Bis 1980 gab sie über 2 Prozent ihres gewaltigen BIP für ihr Militär aus, ehe es 2021wie in Österreich nur mehr 0,8 Prozent von allerdings 718,56 Milliarden Euro (Österreich: 403,4 Milliarden) waren.  Schweden gibt derzeit 4 Prozent seines BIP für Verteidigung aus, bei Finnland waren es 4 Prozent und sind derzeit 1,5 Prozent, die es wieder steigert. Denn wenn man die Neutralität völkerrechtlich ernst nimmt, muss der neutrale Staat umfassende militärische Bedrohung alleine abwenden. Das ist zwangsläufig teurer, als wenn man das Risiko, wie bei einer Versicherung, auf mehrere Staaten aufteilt.

Schweiz, Schweden Finnland hatten immer teure, starke Heere, um den Rechtsvorschriften der Neutralität zu genügen – nur Österreich ist der falschen Rechtsmeinung, dass die Neutralität ihm ein schwaches Heer erlaubt. Denn wie so oft sind wir damit in der Praxis durchgekommen, weil andere uns absichern. Unser Platz in der Welt ist  das Trittbrett.

 

 

5 Kommentare

  1. Bitte keine Kommentare mehr zusenden!
    Nach diesem Kommentar zur Neutralität kann ich auch andere Meinungen nicht mehr ernst nehmen.

  2. Ja, so ist das halt mit den Lebenslügen. In unserem Kulturkreis glaubt man auch mehrheitlich, dass es einen “lieben Gott” gibt. Oder es wird einem eingetrichtert … Warum soll man nicht an die Neutralität und deren Sinnhaftigkeit glauben?

  3. “Atomwaffen sind noch in keinem der zahllosen seit Nagasaki geführten Kriege zum Einsatz gekommen – die Angst davor stabilisiert im Gegenteil den Frieden unter den Atommächten.”
    Das ist aber auch eine gewagte These. Österreich und die Schweiz hat auch niemand angegriffen, seitdem beide Länder neutral sind. So kann man auch argumentieren.
    Ich bin sicher, dass “irgendwo auf unserem Planten” wieder einmal Atomwaffen zum Einsatz kommen – früher als “irgendwann” einmal Österreich oder die Schweiz angegriffen werden.

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