Droht ein historisches Kriegsverbrechen?

Einen Staudamm zu sprengen gliche dem Einsatz taktischer Atomwaffen. Reagierte der Westen nicht, gäbe er sich auf.  Lenkt Putin ein, steigt die Chance auf Frieden.

Im südukrainischen Cherson spitzt sich der Krieg auf irrwitzige Weise zu. Nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes haben die Russen  den riesigen Staudamm des Kraftwerks Kachowka oberhalb der 290.000-Einwohner- Stadt vermint. Derzeit evakuiert (deportiert) die mittlerweile russische Stadtverwaltung zehntausende Einwohner über eine Pontonbrücke des Flusses Dnjepr in ebenfalls noch russisch besetztes Gebiet und begründet das mit Raketenangriffen der vorrückenden ukrainischen Armee und einem möglichen “Terrorakt”.  Tatsächlich haben die Truppen Wolodymyr Selenskijs die Truppen Wladimir Putins in dieser an di Krim grenzenden Region so weit zurückgedrängt, dass sie die einzige bisher von Russland eroberte größere Stadt demnächst zurückerobern könnten. Aber ebenso gut könnte Putin den Damm sprengen lassen und den verbliebenen Einwohnern und einrückenden ukrainischen Truppen ein Massengrab bescheren.

Sollte das passieren – und so wie er diesen Krieg bisher geführt hat, ist es Putin ebenso zuzutrauen, wie die Behauptung, ukrainische Terroristen hätten die Sprengung ausgelöst– so trete der Krieg meines Erachtens in eine neue Phase: Der lokale Einsatz taktischer Atomwaffen bedingte vermutlich weniger Tote als das  Sprengen des Staudamms.

Auf den Einsatz taktischer Atomwaffen wollte die USA reagieren, indem sie die russische Schwarzmeerflotte versenken und Putins Armee in der Ukraine aus der Luft vernichten. Die Reaktion auf das Sprengen des Staudamms sollte nur geringfügig milder ausfallen. Es gilt – auch unter “deutschen Intellektuellen”-  zu begreifen, dass Putin nicht ein durch die Nato- Osterweiterung in die Enge getriebenes Opfer, sondern schon jetzt ein Massenmörder ist. Zwar wurde Michail Gorbatschow anlässlich der deutschen Wiedervereinigung mündlich zugesagt, dass die NATO nicht erweitert würde, aber dem folgte aus gutem Grund kein entsprechendes Vertragswerk: Es war undenkbar, Polen, Letten oder Balten die Aufnahme in die NATO zu verweigern, nachdem sie unter der Bedrohung durch russische Panzer Jahrzehnte düsterer Unterdrückung erlitten haben. Die Nato, so suspekt sie “deutschen Intellektuellen” auch sein mag, ist ein Verteidigungsbündnis, das in seiner 73jährigen Geschichte nur ein einziges Mal nicht im Einvernehmen mit dem UN-Sicherheitsrat und zur Verteidigung eines Nato-Landes gehandelt hat: Sie griff nach dem serbischen Massaker an 8000 Muslimen in den Jugoslawienkrieg ein und beendete ihn. Der leider verlorene Krieg in Afghanistan und der verfehlte Krieg im Irak wurden nicht von der Nato, sondern von den USA geführt, auch wenn sich ihnen im Irak etliche und in Afghanistan fast alle Nato-Mitglieder anschlossen.

Putins Behauptung, die NATO-Osterweiterung bedrohe Russland, war immer eine seiner zahllosen Lügen, denn insbesondere die stets hervorragend informierten russischen Geheimdienste wussten genau, dass es nicht so ist. Nicht zufällig hat die Nato in den an Russland grenzenden Ländern keine US-Kontingente und keine Atomwaffen stationiert und Russland in einem eigenen Abkommen zur Beobachtung ihrer militärischen Aktivitäten eingeladen. Aber Putin brauchte die angebliche Bedrohung durch die Nato, um seiner Bevölkerung zu erklären, dass ihr Wohlstand wegen der notwendigen Rüstungsausgaben nicht rascher steigt und er brauchte sie vor allem um seine militärischen Vorstöße in Tschetschenien, Moldawien und Georgien zu rechtfertigen. Das russische Imperium, das wieder zu errichten er sich zum Ziel gemacht hatte, setzte die angebliche Bedrohung Russlands durch die Nato voraus. Dass Angela Merkel das US-Ansinnen zurückwies, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, war und ist die Basis des aktuellen Krieges. Gegen eine in die Nato aufgenommene Ukraine gäbe es ihn nicht, ist die Nato militärisch konventionell doch ungleich stärker als Russland.

Ich verstehe noch, dass Joe Biden erklärte, dass die Nato sich nicht an diesem Krieg beteiligt, weil das die Gefahr eines dritten Weltkrieges berge – aber die Zurückhaltung Deutschlands und der USA,  Selenskij mit optimalen Waffen zu beliefern, verstehe ich nicht. Völkerrechtlich ist jede Waffenlieferung, auch die schwerster Artillerie, stärkster Raketenwerfer oder modernster Jagdflugzeuge zulässig. Sie dennoch für unzulässig zu erklären, kann man Putin nicht hindern. Wenn man seine widerrechtliche Reaktion auf solche Lieferungen panisch fürchtet, dann hätte man sie von vornherein unterlassen sollen. Ist man hingegen der meines Erachtens richtigen Überzeugung, dass es unerlässlich ist, Putin in die Schranken zu weisen, dann soll man dafür ein Maximum an Waffenlieferungen aufwenden: Krieg mit angezogener Handbremse zu führen, verlängert ihn nur. Je früher Putin militärisch in Probleme gerät, desto größer die Chance, dass er zu einem Kompromissfrieden bereit ist, wie ihn Elon Musk und Papst Franziskus skizziert haben: Internationale Anerkennung der Annexion der Krim (Ende der diesbezüglichen Sanktionen) im Tausch für eine neutrale Ukraine, in der nach Abzug aller Truppen international überwachte Abstimmungen über den Status von Luhansk und Donezk stattfinden.

Unterbleibt die Sprengung des Kachowka-Staudamms und ermöglicht Putin die Beseitigung der Minen, so sähe ich darin ein Indiz, dass er doch noch bei Verstand ist und hielte die Zeit sogar für reif, dass Biden, wenn er  am 15. November  beim G20-Gipfel auf ihn trifft, “Friedensgespräche” mit ihm anbahnt.

 

6 Kommentare

  1. “Es gilt – auch unter „deutschen Intellektuellen“- zu begreifen, dass Putin nicht ein durch die Nato- Osterweiterung in die Enge getriebenes Opfer, sondern schon jetzt ein Massenmörder ist.”
    Zum Glück gibt es Intellektuelle, die nicht der USA-, der Ukraine-, der von der Leyen Propaganda auf den Leim gehen.
    Einig sind wir uns hoffentlich, dass die Russen “keine Guten” sind, aber auch die USA nicht. Alle haben “Interessen” … und auf die eigenen Leute wird oft geschixxen.

  2. Die Russen lassen derzeit das Wasser aus dem Staudamm ab. Was würde die Sprenung den Russen nützen? Die eigenen Truppen unter Wasser zu setzen. Den einzigen Sinn den ich erkennen kann ist durch eine Staudammsprenung die russischen Pontonbrücken wegzuspülen das nützt aber nur den Ukrainern.

    1. Ich sehe das genau so. Gibt es keinen klärenden, unabhängigen Jounalismus mehr? Abenteuerliche Mutmaßungen werden ungestraft verbreitet. Ist vielleicht das russische, im Westen viel geschmähte, Mediengesetz zweckdienlicher als freier Propagndismus?

  3. Sehr geehrter Herr Lingens,
    danke für diesen Beitrag, mit dem Sie völlig recht haben.
    Nur: historisch wäre ein solches Kriegsverbrechen nicht. Deutsche Staudämme wurden von den Briten im 2. Weltkrieg mehrfach im Rahmen der Operation Chastise bombardiert: https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Chastise
    Ohne das verbrecherische Nazi-Regime oder gar das Putin-Regime auch nur im Ansatz rechtfertigen zu wollen: Wurden diese Kriegsverbrechen der Briten jemals gesühnt?

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