Ist ein Kompromissfrieden noch denkbar?

Krieg ist Männersache. Sind Friedensgespräche zur Ukraine noch möglich? Entscheidet Selenskij was Ukrainer einem Frieden opfern?

Krieg ist Männersache. Männer wollen in Kriegen Siege (auch wenn sie natürlich auch überleben wollen) – Frauen wollen Kriege überleben (auch wenn sie natürlich auch siegen wollen). Wladimir Putin, Joe Biden und Wolodymyr Selenskij sind Männer. Putin dachte, den Sieg in der Ukraine in wenigen Tagen gegen einen fliehenden Selenskij zu erringen – dass ihm das nicht gelang, lässt ihn nicht am Sieg, sondern an den eingesetzten Mitteln zweifeln. Vorerst mobilisierte er zusätzlich 300.000 Mann, notfalls wird er eine Million mobilisieren. Wenn auch das keinen Sieg bringt, könnte er taktische Atomwaffen einsetzen, obwohl das zu seiner totalen Niederlage führte. Aber er hätte seine Ehre gerettet: wäre keinen Zentimeter von seinem Weg abgewichen. Selenskij hat statt zu fliehen Geschichte geschrieben: Er war immer überzeugt, dass seine Truppen sich erfolgreich wehren würden – jetzt ist er von ihrem Sieg überzeugt. Er will keinen Zentimeter ukrainischen Bodens opfern. Biden könnte dank Selenskij einen historischen Sieg über Putin erringen.

Ist ein Kompromissfrieden unter diesen Vorzeichen noch denkbar?

Ich halte für nützlich, die Konsequenzen dieser mannhaften Haltungen an Hand der wahrscheinlichen militärischen Entwicklung zu Ende zu denken: In den nächsten Wochen dürften der Ukraine wie bei Cherson, weitere Vorstöße gelingen – die Russen -werden mit Raketen und Drohnen weiter ukrainische Infrastruktur, voran Kraftwerke, zerstören. In der Zeit, in der Putin mehr Reservisten an die Front bringt, wird Selenskij mehr überlegene US- Waffen erhalten – das Kräfteverhältnis dürfte sich dadurch kaum zu Putins Gunsten ändern. Meines Erachtens auch nicht durch eine allfällige Generalmobilmachung: Die Russen werden weiter nicht wissen, wofür sie kämpfen – selbst frierende Ukrainer sehr wohl. Die Überlegenheit der westlichen Waffen dürfte mit der Zeit eher größer werden, weil die Qualität der russischen Waffen unter den Sanktionen leiden dürfte. Dennoch wird die soviel größere Truppenstärke und das vorhandene Waffenarsenal Putin ermöglichen sehr lange Krieg zu führen und sehr viel mehr Zerstörung anzurichten. Dass er keinen klaren Erfolg erringen dürfte und dass immer mehr Russen in Särgen heimkehren, dürfte den schon jetzt vorliegenden Druck steigern, taktische Atomwaffen einzusetzen. Denn anhaltende militärische Erfolglosigkeit setzt ihn der ernsthaften Gefahr aus, abgelöst, ja des Mordes und der Korruption angeklagt zu werden.

Ich meine, dass dieser möglichen bis wahrscheinlichen militärischen Entwicklung folgende politische Einschätzung adäquat ist: Es gibt die reale Chance, dass Putin über den Ukraine-Krieg stürzt und Russland einen liberaleren Staatschef erhält, der statt auf Konfrontation auf Geschäfte mit dem Westen setzt – nicht zuletzt hoffen das viele Russen. Dem steht das Risiko eines Atomkrieges gegenüber, von dem niemand weiß, wo er endet. Und dem steht die Wahrscheinlichkeit gegenüber, dass die Ukraine, auch wenn sie siegen sollte, am Ende eines sehr langen Krieges ein Trümmerfeld ist.

In meiner subjektiven Abwägung überwiegen diese beiden Risiken die Chance auf Putins Sturz. Ich verstehe aber, dass man es auch umgekehrt sehen kann und teile die Meinung Hans Rauschers, dass die Ukrainer nur selbst entscheiden können, was sie einem Frieden vielleicht zu opfern bereit sind. Das Problem ist nur: Wie entscheiden sie das? Eine Volksabstimmung ist unter den gegebenen Verhältnissen nicht möglich. Spricht Selenskij daher tatsächlich für die Bevölkerung, wenn er erklärt, keinen Zentimeter ukrainischen Bodens für einen Frieden zu opfern? Ich stelle dem die auch nicht repräsentative Aussage mir bekannter Ukrainerinnen gegenüber, die nach Rückfrage in ihren kriegsversehrten Heimatgemeinden behaupten: Eine Volksabstimmung, an der auch die geflohenen Frauen teilnähmen, ergäbe eine klare Mehrheit für einen Kompromissfrieden, selbst wenn die Krim und sogar die Städte Donezk und Luhansk bei Russland blieben.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Selenskij einen solchen Kompromissfrieden anstrebt, hält sich in Grenzen: Wie soll er der Bevölkerung, voran Frauen, die ihre Ehemänner, Söhne und Väter in diesem Krieg verloren haben, erklären, dass die umsonst gestorben sind, weil Teile der Ukraine dennoch russisch bleiben? Aber wie erklärt er umgekehrt den Frauen, deren Männer, Söhne und Väter derzeit im Kampf den Tod riskieren, dass er jeden Frieden ausschließt, bei dem die Krim russisch bleibt?

Auch dass Putin einen Kompromissfrieden anstrebt ist unwahrscheinlich – wenn auch nicht gleich null: Seine militärische Lage hat sich verschlechtert; er hat den Musk-Plan, der ihm einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem Krieg erlaubte, ein “positives Signal” genannt; zuletzt hat Außenminister Sergej Lawrow erklärt, dass Putin beim Treffen der G20 am 15. November bereit wäre “jegliche Vorschläge zu Friedensgesprächen anzuhören”. Meines Erachtens sollte die EU diese Gespräche

einfordern. Biden könnte Putin “auf Augenhöhe” vorschlagen, mit Selenskij Verhandlungen über einen Frieden zu führen, wie ihn vor Elon Musk schon Papst Franziskus skizzierte: Internationale Anerkennung der Annexion der Krim und einer neutralen Ukraine, gegen Abzug aller russischen Truppen; ein Jahr danach international kontrollierte Abstimmungen über den Status von Luhansk und Donezk.

Putins Zustimmung bleibt unwahrscheinlich – aber zumindest hätte man alles versucht.

PS: Mittlerweile ist klar: Putin kommt gar nicht zum G20-Gipfel- das illustriert sein wahres Interesse an Friedensgesprächen ziemlich perfekt.

 

8 Kommentare

  1. Nach vielen Monaten in denen ich die Kommentare von PM Lingens nicht mehr gelesen habe werde ich durch die Leserkommentare von Walter Plöderl und Ing. Rudolf Langer bestätigt, dass das die richtige Entscheidung war. PM Lingens sollte sich fragen warum es ihm nicht gelungen ist die Leser seine Artikel soweit zu schulen und aufzuklären, dass Sichtweisen wie die dieser beiden Leser aufzeigen.

  2. Hätte sich die Nato nicht eingemischt wäre der Krieg längst entschieden. Der 3. Weltkrieg kann noch länger dauern. Bringt ja enorme Umsätze. Ausgang ungewiss. Die Sieger sind bei jedem Krieg die selben. Ja die braven, unschuldigen Arbeitgeber in der Waffenindustrie und deren Aktionäre lenken die Politmarionetten, manipulieren Wahlen und lassen sich feiern.
    Bravo den mutigen Siegern. Reperationszahlungen und Wiederaufbau lassen die Kassem wieder klingeln. Waffen nieder!!!!!!!

  3. Hätte die NATO die Ukraine nicht in “ihren Verein” gelockt wie auch die EU in ihren, wäre Putin friedlich geblieben, bin ich fest davon überzeugt. Und dass die Krim als strategischer Stützpunkt zu den Russen – aus deren Sicht – gehört / gehören muss, sollte jedem militärischen Strategen klar gewesen sein. Aber ich weiß, dass es auch Idioten und Fehlgeleitete in “jeder Branche” gibt …

    1. Herr Langer ich stimme ihrer Einschätzung voll zu. Die Nato als Gegenstück zum Warschauer Pakt gehört aufgelöst. Die illegalen Kriege der Nato gehören vor ein internationales Tribunal.

      1. Herr Blöderl – den Warschauer Pakt gibt es seit 1991 nicht mehr und die NATO ist auf Grund der Aggressivität Russlands wichtiger den ja – wie wichtig sieht man an den Nachbarländern Russlands die es geschafft haben der NATO beizutreten. Die sind sichern vor Überfällen Russland – die Ukraine war es nicht!

Schreibe einen Kommentar zu Nichtschweiger Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.