Israel auf faschistoiden Abwegen?

Wenn Israel seinen Obersten Gerichtshof entmachtet, überschreitet es eine rote Linie. Benjamin Netanjahu garantiert nicht Israels Sicherheit, sondern die eigene.

Wenn Israels Parlament wirklich in vollem Umfang beschließen sollte, dass es Entscheidungen des Obersten Gerichtshof annullieren kann, dann betritt es den Weg zum faschistoiden Staat. Das schmerzt mich fast physisch: „Nächstes Jahr in Jerusalem“, so erzählte mir meine Mutter, die Auschwitz als Häftlingsärztin überlebte, hätten die Jüdinnen gerufen, die wussten, dass sie ins Gas geführt wurden. Seither war ihr und ist mir Israel so wichtig wie Österreich.

Zweifellos ist es unter der Bedrohung, unter der es steht – der Iran vernichtete es lieber gestern als heute – besonders schwer, einer faschistoiden Entwicklung zu widerstehen: Natürlich will man in dieser Lage einen starken Führer und legt Wert auf schnellstes, ungehindertes Handeln. Aber bisher hat Israel diese Anforderungen innerhalb einigermaßen rechtsstaatlicher Grenzen erfüllt – jetzt ist es dabei, sie zu überschreiten.

Die aktuelle Schuld daran trägt Benjamin Netanjahu, der seit jeher behauptet, der so notwendige starke Führer zu sein. Das war schon bisher fraglich, weil er der Annäherung Israels an seine arabischen Nachbarn stets am meisten im Wege stand, statt sie wie Shimon Perez zu erleichtern. Allerdings hat es diese Annäherung dennoch gegeben: Durch reinen Zeitablauf ist Israels Bedrohung trotz des Iran in Summe gesunken: Frieden und Waffenstillstände mit den größten arabischen Ländern stehen auf immer festeren Beinen. Daher verstärkt sich mein Verdacht, dass es Netanjahu bei seinem Bemühen, unter allen Umständen an der Regierung zu bleiben, nicht so sehr um die Sicherheit Israels als um die eigene Sicherheit geht: Sobald er nicht mehr Regierungschef ist, drohen ihm, wie Recep Tayyip Erdogan in der Türkei, viele Jahre Gefängnis für Korruption. Diese Bedrohung büßt Israels Bevölkerung mit der Koalition von Netanjahus Likud mit Parteien der extremen religiösen Rechten.

Diese religiöse Rechte war und ist in meinen Augen Israels zentrales Problem. Fanatische Religion ist immer und überall – vom Iran der Mullahs bis zu Donald Trumps USA – das größte Hindernis für Vernunft. Spätestens in dem Moment, in dem religiöse Parteien als Zünglein an der Waage die Politik einer Regierung entscheiden, wird es lebensgefährlich.

Gefährlich war es schon bisher: Es waren und sind die Religiösen, derentwegen der Siedlungsbau in den besetzen Gebieten vorangetrieben wurde und wird, der einen Palästinenserstaat so unendlich erschwert. Ich war aus vielen, nicht zuletzt praktischen Gründen primär kein Anhänger dieses Staates: In meinen Augen hätte der Westen besser darauf gedrängt, dass umliegende Staaten die Palästinenser aufnehmen und Jordanien von einem haschemitischen Staat zu einem Staat aller Palästinenser wird, die dort locker Platz haben. Aber da man sich mit dem Osloer Abkommen auf die Vorstufe zu einem Palästinenserstaat geeinigt hat, war ich der Meinung, dass Israel alles tun sollte, damit er funktionieren kann, denn umso eher würde man in gegenseitigem Frieden leben. Aber es tat mit dem Siedlungsbau das Gegenteil und die Hamas tat mit ihren Raketen nicht anders.

Auch damit habe ich nicht nur ein intellektuelles, sondern auch ein emotionales Problem: Zu einem meiner herzlichen Freunde wurde mit Issam Sartawi ein Palästinenser, der eine Zeitlang der offizielle Außenminister der PLO war. Er war es, der bei der PLO die Anerkennung Israels betrieben und durchgesetzt hat, und er hat das mir gegenüber mit einem Traum begründet: Gemeinsam könnten Israel und ein mit ihm befreundeter Palästinenserstaat der Nukleus einer demokratischen arabischen Welt sein.

„Da ist es doch viel einfacher, Israelis und Palästinenser bilden gleich einen gemeinsamen Staat“, ist es mir in meiner areligiösen Gedankenlosigkeit entschlüpft. „Das geht nicht“ nahm Sartawi Israels Partei, „nach dem Holocaust muss Israel ein jüdischer Staat sein“. Natürlich war das auch für mich in der nächsten Sekunde evident, aber es hat meine Abneigung gegen Religion nicht vermindert.

Wann immer ich Sartawi in Wien traf, warnte er mich, gemeinsam mit ihm auf die Straße zu treten: Radikale Palästinenser, die ihm wegen seines Eintretens für Israel nach dem Leben trachteten, würden mich nicht schonen, wenn sie auf ihn schießen. Ich habe das damals belacht, bis ich beweinen musste, dass sie ihn in Portugal mit neun Schüssen ermordet haben.

Heute ist mir natürlich bewusst wie naiv wir letztlich beide waren: Höchstens Daniel Barenboim hat sich in seinem israelisch- palästinensischen West-Eastern Divan Orchestra Freundschaft zwischen Juden und Arabern vorstellen können. Wieder sorgt Netanjahu für das Gegenteil: Sein Gesetz, das Israel seit 2018 als „Staat der Juden“ definiert, macht arabische Israelis zu Bürgern zweiter Klasse und war der erste Schritt zum faschistoiden Staat.

Und natürlich gereicht der fortgesetzte Status als Besatzer Israels Rechtsstaat zum Schaden: Wenn die Religiösen in den besetzten Gebieten „Erez Israel“ sehen, unterscheidet sich das nicht rasend von Putins Überzeugung, dass die Ukraine eigentlich Teil Russlands ist.

Ich maße mir nicht an zu wissen, welche Politik Israel betreiben sollte. Aber ich weiß, welche Schäden es mit der aktuellen Politik riskiert: Sie kann Israel die bedingungslose Unterstützung der „democrats“ in den USA kosten; sie leistet dem ubiquitären Antisemitismus Vorschub, der in Österreich bekanntlich „Da sieht man`s ja, die Juden sind die Nazis von heute,“ lautet; und vor allem verliert Israel die Kraft der Moral.

3 Kommentare

  1. Es ist erschütternd, dass nicht einmal die Juden etwas aus der Geschichte gelernt haben. Sie wählen einen großen “Führer”, der bedenkenlos den Rechtsstaat aushöhlt (und bereit ist, ihn über Bord zu werfen, wenn das nötig ist, um seine eigene Haut zu retten!). Jetzt ist es Israel, das ein anderes Volk unterdrückt, dessen Rechte und dessen Daseinsberechtigung leugnet und ihm den Lebensraum wegnimmt. Wie lange wird die Schutzmacht USA diesem Treiben noch zusehen?

    1. Das sind wahrscheinlich Loslösungserscheinungen von der Schutzmacht USA. Die sind auch in Eropa überfällig. Saudi Arabien geht voraus.

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