Der billige Mythos Neutralität

Neutralität hat noch kein Land vor Krieg bewahrt – nicht einmal die Schweiz. Trotzdem gibt sie das x-fache Österreichs für ihre Armee aus. Trittbrettfahren ist billiger

Dass Beate Meinl Reisinger Kanzler Karl Nehammer vorwarf, den Kopf in den Sand zu stecken, indem er jede Debatte über Österreichs Sicherheit mit dem Hinweis auf die Neutralität abwürgt, kann die NEOS nur Stimmen kosten. Denn die Neutralität ist eine heilige Kuh, die Nehammer auch sogleich fütterte: „Die Neutralität war und ist hilfreich für die Republik Österreich und sie bleibt hilfreich!“

1997 sah das selbst die ÖVP anders, obwohl Russland damals niemanden überfallen hatte: „Es

habe sich gezeigt“, beschloss ihr Bundesparteivorstand „dass die europäische Sicherheit… vor allem in der neuen NATO entwickelt wird“…. Deshalb solle Österreich „der neuen NATO beitreten“.

Diese klare Formulierung schwächte Wolfgang Schüssel als Chef einer schwarz-blauen Koalition erst in der Regierungserklärung zum Konjunktiv ab, nachdem er Meinungsumfragen gelesen hatte. Obwohl der NATO-Beitritt damals auch Ziel der FPÖ war, deren Obmann Herbert Kickl sich heute entrüstet, dass die Regierung die Neutralität durch ihre Kritik an Russland gefährdet.

Nicht einmal die SPÖ war ihrer Ablehnung der NATO immer so konsequent wie ihr Klubobmann Heinz Fischer. 1993 konnte sich Kanzler Franz Vranitzky vorstellen, dass sich die Neutralität „als überflüssig und überholt erweisen könnte, wenn ein kollektives Europäisches Sicherheitssystem zustande kommen sollte“, und 1997 antwortete SP-Kanzler Viktor Klima im Standard auf die Frage, ob er sich eine NATO -Mitgliedschaft vorstellen könne: „Wenn wir ein europäisches Sicherheitssystem haben… warum sollten wir das dann nicht tun?“

Wolfgang Schüssel musste sich also nicht so völlig isoliert fühlen, wenn er eine NATO-Mitgliedschaft anstrebte.

Aber so einig alle Unterhändler des Staatsvertrags, von Leopold Figl über Bruno Kreisky bis zu Julius Raab darin waren, dass die Neutralität eine massive Einschränkung der Souveränität darstellt, so eindeutig sieht der heutige Souverän darin etwas, das uns auszeichnet. Zum einen, weil jedes Land sich besonders und ausgezeichnet sehen will, was umso leichter fiel, als die Neutralität  uns unter so beneidenswerte Länder wie die Schweiz und Schweden reihte, zum anderen, weil mit  Staatsvertrag und Neutralität Österreichs unglaublicher wirtschaftlicher Aufstieg einsetzte und man meint, dass auch sie daran Teil gehabt hätte, obwohl sie ihn etwas bremste:  Sehr vorsichtige Investoren  investierten lieber in NATO-Ländern.

Dafür erfüllte Bruno Kreisky die Neutralität mit Glanz: Er sah uns = ihn durch sie zum Schiedsrichter berufen: Währende Schwedens Olof Palme die USA kritisierte, kritisierte er ebenso neutralitätswidrig die UdSSR.

Der Frage, ob Neutralität tatsächlich vor Krieg schützt, trat neben soviel Glanz in den Hintergrund: Hitlers Wehrmacht hat mit Luxemburg, Belgien Holland, Dänemark und Norwegen einen neutralen Staat nach dem anderen überfallen, ohne dass dessen Neutralität das geringste Hindernis gewesen wäre, und Russland überfiel das neutrale Finnland. Dass die Schweiz verschont blieb lag ausschließlich daran, dass Hitler den Plan General Guderians, über die angeblich nicht panzergängigen belgischen Ardennnen statt über die Schweiz nach Frankreich vorzustoßen, für den besten hielt.

Schweden wiederum war militärisch ungemein stark: In Deutschland wusste man, dass seine Armee immer locker imstand sein würde, am Ende auch die eigene Stahlerzeugung zu zerstören. Ein Angriff auf Schweden hätte bedeutet, dass es keinen Stahl mehr geliefert hätte – darauf konnte Deutschland es nicht ankommen lassen. Mit seiner Neutralität hatte Schwedens Schonung so wenig wie die der Schweiz zu tun.   

Falsch ist aber auch die Behauptung, dass Österreich in der Vergangenheit durch seine Neutralität geschützt war. In kritischen Situationen, etwa im „Prager Frühling“ versicherte sich die Regierung immer in den USA, dass die Nato Österreich, anders als heute die Ukraine, verteidigen würde und das wusste man im Kreml. Dennoch gab es unter russischen Militärs gelegentlich Planspiele, die sich erstaunlich intensiv mit Österreich befassten. Das wichtigste davon war die Aktion „Polarka“, die davon ausging, dass die UdSSR das abtrünnige Jugoslawien Titos zur Ordnung ruft und dass Österreich bei dieser Gelegenheit „seine Neutralität missachtet“, was der UdSSR „zwingt“, einen gravierenden Fehler Nikita Chruschtschows wieder gut zu machen. Nach glaubwürdigen Aussagen hat Marschall Gregori Schukow dieses Planspiel sehr ernst genommen, aber Chruschtschow sei der Stärkere gewesen.

Was wurde aus den vielen hier angeführten Neutralen? Alle sind heute NATO–Mitglieder oder wollen es wie Schweden und Finnland werden. Alle begründen das mit ihrer Erfahrung.

Österreich müsste also starke Gründe haben, warum es der NATO fernbleibt. Der wirksamste ist der Umstand, dass der Beitritt Geld in Form massiver Aufrüstung kostete. Vor allem aber können sich die Österreicher nach wie vor relativ sicher fühlen, sind sie doch von der waffenstarrenden Schweiz und lauter NATO- Staaten umgeben. Trittbrettfahren ist also ungleich billiger. Stellt sich die Frage, warum es nicht alle Staaten wie Österreich machen? Die rationale Antwort lautet: Weil das System dann implodierte und Putin demnächst Europa beherrschte. Die moralische Antwort wollen wir nicht hören: „neutral“ ist ein Mann, der sieht, wie jemand einen anderen mit Füßen gegen den Kopf tritt und vorbeigeht, weil er sich entschlossen hat, sich nie einzumengen.

4 Kommentare

  1. Danke für diese besonders vielseitig beleuchtete und trotzdem ganz klare, eindeutige und auch genügend kurz gehaltene Darstellung von unwiderlegbaren Tatsachen. Ich hoffe, dieses Traktat erreicht möglichst viele Österreicher und insbesondere alle Politiker, die in Österreich an den Schlüsselstellen werken. Mir ist zwar bewusst, dass es einen langwierigen Prozess brauchen wird, diesen absurden Neutralitäts-Mythos in den Köpfen unserer Bevölkerung zu löschen, aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben.

  2. Auch wenn ich zur Neutralität gar keine so starke Meinung in eine Richtung habe. Aber geht es bei der Neutralität wirklich (nur) darum, dass wir nicht angegriffen werden können?
    Wer das glaubt ist ganz bestimmt am Holzweg – das ist schlicht naiv.
    Aber abgesehen davon, dass die Schweiz doch sehr wohl von Hitler etwas verschonter geblieben ist, als alle Staaten rundherum (und hier sehe hier doch einen Zusammenhang mit der Neutralität), so glaube ich, dass es hierbei viel mehr um den Wunsch geht, sich als Land zu zeigen, dass sich von Krieg grundsätzlich distanziert zeigen will und auch eine “Plattform” für politisches Treffen in eben einem neutralen Staat sein will. Auch war und ist.
    Österreich mit einem “Mann der vorbei geht” zu vergleichen, ist, abgesehen von der politisch veralteter Beschreibung, eine aggressive Beschimpfung eines Gegners der Neutralität (Verzeihung Hr. Lingens, ich lese hier wirklich gerne Ihre Beiträge!). Denn wenn man sich – im Profil zumindest – die Lieferungen an unterstützendem Gerät und Hilfsgüter Österreichs an die Ukraine ansieht, so finde ich unser Verhalten großartig und sehe Umgekehrtes:
    Als kleines Land – was wir eben doch sind – so viel Hilfe zu stellen ohne sich zu sehr aktiv in einem Krieg zu involvieren ist nicht ein Nichthinschauen oder gar Vorbeigehen.
    1. glaube ich nicht, dass uns ein Nato-Beitritt vor Krieg (total) bewahren würde und 2. interessiert mich viel mehr darüber zu sprechen und Aktionen zu versuchen um Nachdruck auszuüben dem Krieg ein Ende zu ermöglichen, als darüber zu diskutieren wie wir uns unbedingt mit Nato beschützen müssen: Wenn Krieg kommt, kommt er auch wenn wir in der Nato sind. Ohne militärischen Hintergrund völlig zu verneinen, will ich gesagt haben.
    Ein allzu intellektueller Bürger bin ich nicht, aber naiv bin ich ganz bestimmt auch nicht – Frage ist für mich nur, warum muss man (diskutable) Friedensaktivitäten – zB in Form von Maifesten usw. – und militärisches Agieren so von einander getrennt sehen, sogar schon so sehr, dass sich die Gesellschaft spaltet, während sich ein Putin das mit Freude ansieht. Gibt es wirklich nur Kriegsbefürworter (ums mal genauso bescheuert auszudrücken wie “Corona-Gegner”) ODER Friedensmanifestler?
    Sollten wir nicht alle viel mehr an einem Strang ziehen und die unterschiedlichen Meinungen zur Lösung des Kriegs-Wahnsinns zusammenziehen, anstatt alte Männer senil zu bezeichnen und Politikerinnen die andere Meinungen haben als dumm darzustellen?
    Wie wärs mal mit einer Fernsehsendung / einer Diskussion die Leute an einen Tisch setzt die den “Friedensweg” gehen wollen und solche die im militärischen Weg den richtigen sehen. Und alle Versuchen mal Wege zu zeichnen wie der Krieg zu einem Ende gebracht werden könnte – ohne immer den einen als Schwachsinn und den anderen als zu aggressiv abzutun? Vielleicht ist wiedermal ein Mittelweg der richtige?

    Neutralität – ob sie hier wirklich eine Rolle spielt weiß ich nicht, ich sehe nur auf BEIDEN Seiten (Friedensmanifestler und Waffenlieferer) zu viele berechtigte Ideen die vereint betrachtet werden sein sollten.

    1. Zum Kommentar von Thomas Hüttl: die Diskussion von je einem Experten für Militär und Frieden gab es tags darauf, am Dienstag, 14. März im Radio: Punkteins in Ö1 um 13:00 Uhr. Eine sehr gute Sendung, ist noch zwei Tage lang nachzuhören.

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