So sind wir-zu einem leider großen Teil

Herbert Kickl tritt mit seinem Verhalten gegenüber der Ukraine und seinem politischen Erfolg den Beweis an, dass wir doch weitgehend so sind wie “Ibiza” uns zeigt.

“So sind wir nicht”, sagte Alexander Van der Bellen im Juni 2019, als “Ibiza” die Nachrichten beherrschte. Es war das eine der wenigen Halbwahrheiten aus dem Mund des Bundespräsidenten: Ein erheblicher Teil der Österreicher ist so. Seit einer Woche können wir für uns in Anspruch nehmen, das einzige westliche Land zu sein, in dem, wenn Sonntag gewählt würde, eine Partei die mit Abstand meisten Stimmen erhielte, deren Mandatare geschlossen den Saal verlassen haben, als der Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj dem Parlament per Videoschaltung für Österreichs humanitäre Hilfe dankte. “Vertreter der Ukraine haben hier genau so wenig verloren, wie der Vertreter Russlands oder einer anderen kriegsführenden Partei”, begründete Herbert Kickl die Vorgangsweise seiner Partei und brachte es mit diesem Satz fertig, das Vorgehen des neben Saddam Hussein größten Kriegsverbrechers seit Adolf Hitler in einem Atemzug mit dem Kampf der Ukrainer für das Überleben ihrer überfallenen Heimat zu erwähnen. Auch die SPÖ schien mit Selenskyjs Auftritt nicht ganz klar zu kommen: Die Hälfte ihrer Mandatare blieb, wenn auch nicht demonstrativ, der Selenskyj Rede fern, denn auch in der SPÖ sind viele Abgeordnete nicht sicher, dass diese Rede mit der Neutralität vereinbar ist.

Das kommt davon, dass dieser Staat, seine Bevölkerung und seine Parteien zur Neutralität durchwegs ein schlampiges Verhältnis unterhalten: Sie ist ein Bestandteil jeder außenpolitischen Rede und wahrscheinlich inzwischen tatsächlich der österreichischen Identität, den man in Wahrheit nur akzeptieren kann, wenn man – ich wiederhole mich – gewillt ist, untätig zuzusehen, wenn jemandem mit Füssen gegen den Kopf getreten wird. Die grundsätzliche Diskussion um den humanen Wert oder Unwert der Neutralität zu unterlassen, ist ein zentrales österreichisches Problem, das einzig die NEOS als solches begreifen.

Schweden, Finnland oder Norwegen waren nie wie Österreich “dauernd” (“immerwährend”) neutral – das ist nur die Schweiz. Aber sie war es von Beginn an aus eigenem Willen, während wir uns einer Forderung Nikita Chruschtschows beugten, ohne deren Erfüllung wir den Staatsvertrag nicht erhalten hätten: Unsere angebliche Freiwilligkeit war erzwungen. Wenn man diese erzwungene “dauernde” Neutralität ohne politische Notwendigkeit weiterhin ernst nimmt, dann hat Herbert Kickls Ablehnung einer Rede Wolodymyr Selenskyjs im Parlament eine Menge für sich: Die Professoren für Völkerrecht, Stephan Verosta und Alfred Verdross, die den Staatsvertrag rechtlich begleiteten, waren der damals unstrittigen Rechtsansicht, dass zwar der einzelne Bürger des dauernd neutralen Staates nicht verpflichtet ist, sich eines moralischen Urteils über die kriegsführenden Parteien zu enthalten (er ist kein Subjekt des Völkerrechts), “wohl aber wird es der dauernd neutrale Staat vermeiden, in Konflikten dritter Staaten Partei zu ergreifen.” (Verosta). Im zweiten Weltkrieg warf Deutschland der Schweiz Bruch der Neutralität vor, weil sie nicht verhinderte, dass ihre Zeitungen Hitlers Vorgehen kritisierten und die Schweizer Regierung erwog ernsthaft Zensurmaßnahmen. Die Behauptung, die österreichische Neutralität sei ausschließlich militärisch zu verstehen, steht völkerrechtlich auf halb so sicheren Beinen. Allerdings hätte Österreich durch seinen Beitritt zur EU (den die Schweiz vermied) viel schwerwiegender  gegen die Forderung nach “dauernder” Neutralität verstoßen als durch Selenskyjs Rede im Parlament, und auch Österreichs lächerliche Wehrkraft war ein ungleich massiverer Verstoß dagegen.

Gleichzeitig ist das Völkerrecht freilich einem steten gewohnheitsrechtlichen Wandel unterworfen: Die Rechtsansicht, dass der dauernd neutrale Staat sehr wohl moralisch Partei ergreifen darf, ist heute längst nicht mehr so umstritten wie 1956. Vor allem gibt es auf der Welt nur mehr zwei Staaten, die dieses Gewohnheitsrecht formen: Österreich und die Schweiz. Natürlich konnte Selenskyjs Rede daher völkerrechtlich genauso gut stattfinden, wie man sie völkerrechtlich begründet vermeiden konnte. Kickl kennzeichnet, dass es sie nicht hören will –  dazu steht ihm Wladimir Putin politisch zu nahe.

Wenn in Österreich irgendwann irgendetwas ernsthaft durchdacht und diskutiert würde, verabschiedete es sich aus Gründen des politischen Anstands wie der rechtlichen Sauberkeit von der “dauernden” Neutralität – oder handelte wie die Schweiz ein anderes Abkommen mit der EU aus und steckte um die zwanzig Milliarden Euro in ein der Schweiz ebenbürtiges Heer. Letzteres kommt natürlich für keine Partei des Landes, auch nicht die FPÖ, in Frage. So wie wir das Trittbrettfahren lieben, lieben wir die schlampigen Rechtsverhältnisse – wir sind so.

Auch Herbert Kickl bekämpft die Parteinahme Österreichs ja nicht aus ernsthafter Sorge um ihre Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht. Mir ist nicht bekannt, dass er aufgeschrien hätte, als die FPÖ in ihrer Koalition mit der ÖVP Wolfgang Schüssels sehr ernsthaft den Beitritt zur NATO erwog. Vielmehr vermochte Kickl vielen Österreichern glaubhaft zu machen (und glaubt es wahrscheinlich auch selbst), dass ihnen die Teuerung erspart bliebe, wenn Russland nicht sanktioniert und Putin nicht kritisiert würde. Und sobald viele Österreicher meinen, dass es ihnen mit “Heraushalten” wirtschaftlich besser ginge, ist ihnen Moral völlig egal. Denn so sind wir – leider zu einem verdammt großen Teil.

4 Kommentare

  1. Mir ist eine schlampige Neutralität lieber, als Machthaber, die seit 2014 Massaker gegen die eigene Bevölkerung abziehen, mit Waffen zu beliefern. Einen der korruptesten Politiker (siehe Panama Papers) hat sich bei uns nicht einzuschleimen. Ich war nie FPÖ Wähler!

  2. “Es bräuchte einen Aufstand der Anständigen” hört man immer wieder von verschiedenen Seiten. Aber der wird nicht stattfinden, denn 5 Personen sind zu wenige für einen Aufstand.

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