Sprachlos – das Lesedesaster

Es wird mindestens ein Jahrzehnt dauern, bis Österreichs Kinder wieder lesen können.

Nach dem jüngsten PISA-Schock meinte Josef Votzi im Kurier, PISA sei zum Test für den Fortbestand der rot-schwarzen Koalition geworden. Die Öffentlichkeit erwartet baldige PISA-Besserung- aber diese Erwartungshaltung ist unrealistisch. Bildungs-Rückstände lassen sich nur im Verlauf vieler Jahre aufholen. Vor allem, wenn sie so massiv sind wie bei der Lesekompetenz österreichischer Schüler. (Die zwangläufig auf alle anderen Gegenstände rückwirkt: Wie soll man Mathematik-Aufgaben lösen, wenn man sie nicht lesen kann?

Was PISA in Ziffern ausweist, möchte ich aus persönlicher Erfahrung hautnäher illustrieren: Vor dreißig Jahren habe ich (ursprünglich, um künftige profil-Leser heranzuziehen) die Jugendzeitschrift TOPIC gegründet, die sich damals an Acht- bis Zwölfjährige gewendet hat. Um zu prüfen, ob sie die Texte auch verstehen, habe ich sie einem Dutzend Achtjähriger zu lesen gegeben und erst zum Druck befördert, als sie damit keinerlei Probleme hatten.

Man hat der Erosion der Sprachkompetenz durch gute dreißig Jahre tatenlos zugesehen.

Heute wendet sich TOPIC an Schüler zwischen zwölf und vierzehn, von denen es etwa die Hälfte jedes Jahrganges erreicht. Doch ich gebrauche den gleichen Wortschatz wie seinerzeit für die Achtjährigen – und dennoch sagen mir Lehrer, dass ein Viertel der Schüler die Texte nicht versteht. In Wien selbst in AHS-Klassen.

Man hat der Erosion der Sprachkompetenz durch gute dreißig Jahre tatenlos zugesehen.

Stattdessen diskutierten SPÖ und ÖVP Sinn oder Unsinn der Gesamtschule. An den Kriterien Karl Poppers für „Wissenschaft“ gemessen kam dabei Folgendes heraus: Die schwarze Behauptung, dass Gymnasien unverzichtbar sind, wird durch Finnlands PISA-Erfolg Jahr für Jahr falsifiziert. Aber kaum minder falsifiziert das gute Abschneiden Bayerns oder der Schweiz die rote Behauptung, dass nur die Gesamtschule funktioniert. Es kommt offenkundig weniger auf den beschrittenen Weg als auf dessen jeweilige Ausgestaltung an. (Bayern z.B. bildet Lehrkräfte noch länger als selbst Finnland aus.)

Deshalb halte ich es für einen solchen Fortschritt, dass Sonja Hammerschmid unter die ideologische Auseinandersetzung links liegen lässt und praktischen Verbesserungen Vorrang einräumt.

Erst hinter der Verbesserung der Volksschule rangieren Maßnahmen in den NMS, AHS usw.

Lesen hat man zu meiner Zeit nicht in der AHS, NMS oder Hauptschule gelernt, (die jetzt im Zentrum der Kritik stehen, weil dort die schlechten PISA-Ergebnisse eingefahren werden), sondern in der Volksschule. Dorthin, in die Volksschule, gehören daher bestens geschulte und deshalb auch bestens bezahlte LehrerInnen. Die künftig längere und intensivere Ausbildung aller LehrerInnen trägt dem Rechnung- aber sie wird erst in Jahren PISA-Früchte tragen.

Erst hinter der Verbesserung der Volksschule rangieren Maßnahmen in den NMS, AHS usw. Dort braucht es Stützlehrer, die sich sprachschwacher Kinder individuell annehmen. Ihre Stundenzahl ist seit 2012 Spar-Pakt- bedingt zurückgefahren worden, was ich leider nur schwachsinnig nennen kann.

Es wird am Finanzminister liegen, die Zahl dieser Stunden wieder zu erhöhen.

Keine Lösung ist m.E. die „Neue Mittelschule“ in ihrer derzeitigen Form: Zwei Lehrer in der gleichen Unterrichtstunde bringen allenfalls dann etwas, wenn sie für diese Art des Unterrichtens speziell geschult sind. Nach meinen Erfahrungen mit internationalen Schulen – ich hatte das Glück, zwei meiner sechs Kinder dort unterzubringen- ist es ungleich Erfolg-versprechender, die Kinder in Leistungsgruppen aufzuteilen, in denen maximal 15 Schüler auf einen Lehrer kommen.

Was es dazu braucht sind Primär-Investitionen in Schulgebäude, die diese Aufteilung und insbesondere einen verschränkten Ganztagsunterricht zulassen. Denn auch der ist in fast allen guten Privat-Schulen die Regel, weil er sich seit Jahrzehnten bewährt hat. Es ist unverantwortlich, ihn aus ideologischen Gründen abzulehnen: Den wenigen Kindern, die nachmittags zu Hause vielleicht besser unterrichtet würden, stehen Tausende gegenüber, die am Nachmittag ohne elterliche Hilfe erfolglos büffeln oder Unsummen für Nachhilfe bezahlen.

Entscheidend für das Lesevermögen von Österreichs Kindern ist die Durchsetzung möglichst vieler verpflichtender Kindergarten-Jahre.

Sonja Hammerschmid hat daher uneingeschränkt Recht, wenn sie den verschränkten Ganztags-Unterricht forciert.
Österreich gibt pro Schüler kaum weniger aus als beste internationale Privat-Schulen mich gekostet haben – man soll mir also nicht erzählen, dass dergleichen wirtschaftlich nicht möglich ist.

Angesichts der gestiegenen Zahl von Volksschülern nicht- deutscher Muttersprache – Österreichweit 20 Prozent, in Wien 48 Prozent – können aber auch die besten Volksschul-, NMS- oder StützlehrerInnen nur dann Erfolg haben, wenn der Sprachunterricht schon vor dem Eintritt in die Schule beginnt. Und zwar nicht ab dem fünften, sondern ab dem vierten, noch besser dem dritten Lebensjahr. Denn schon zu diesem Zeitpunkt saugen Kinder Sprache wie Schwämme auf.

Entscheidend für das Lesevermögen von Österreichs Kindern ist die Durchsetzung möglichst vieler verpflichtender Kindergarten-Jahre. Sich dem aus ideologischen Gründen zu widersetzen ist einmal mehr unverantwortlich: Es gibt sicher die Fälle in denen ein Kind bei seiner nicht berufstätigen Mutter noch besser als im Kindergarten aufgehoben ist – aber sie sind vernachlässigbar selten gegenüber den Fällen, in denen Kinder erst im Kindergarten richtig sprechen lernen.

Weil der Kindergarten so entscheidend ist, muss man nicht nur ausreichend Plätze schaffen, sondern auch die KindergärtnerInnen bestens ausbilden – und daher auch besser bezahlen.
In diesem Bereich zu sparen ist einmal mehr schwachsinnig – ein anderes Wort fällt mir dafür leider nicht ein.
Aber selbst wenn man diesen finanziellen Einsatz hoffentlich tätigt, wird es mindestens zehn Jahre brauchen, bis er sich in besseren Pisa Ergebnissen niederschlägt.

Eine gravierende Reform stellt die geplante Zusammenfassung mehrerer kleinerer Schulen zu Schul-Clustern dar.

Sonja Hammerschmid hofft, dass ein Gesetz zu deutlich gestärkter Schul-Autonomie, das sich derzeit in der Begutachtung befindet, diesen Prozess beschleunigt.

So sollen Direktoren das Recht haben, Lehrer anzufordern, von denen sie im Gespräch den Eindruck hatten, dass sie gut ins Team passen. (Dass sie sie wieder loswerden können, wenn sie nicht passen, konnte ich in den Unterlagen nicht entdecken.)
Gleichzeitig soll der Direktor selbst gemäß einem klaren Anforderungs-Profíl und einer unabhängigeren Zusammensetzung des entscheidenden Gremiums nicht mehr in erster Linie nach parteipolitischen Gesichtspunkten bestellt werden. Das werde ich glauben, wenn nicht mehr fast alle Wiener Direktoren rot und fast alle Tiroler Direktoren schwarz sind.

Eine gravierende Reform stellt die geplante Zusammenfassung mehrerer kleinerer Schulen zu Schul-Clustern dar. Ihr Vorteil: Sie könnten von einer gemeinsamen Direktion mit entsprechendem Sekretariat professionell und kostengünstig verwaltet werden. Und rare Fachlehrer ließen sich gemeinsam nutzen.

Ein Problem sehe ich darin, dass diese Schulen doch nicht so nahe zusammenliegen, dass dem Fachlehrer wirklich die Anfahrt zu verschiedenen Standorten zugemutet werden kann. Und in der Steiermark hat sich gezeigt, dass Gemeindezusammenlegungen, die sich ähnlich vernünftig anhören, auf erstaunlichen emotionalen Widerstand stoßen.
Nicht zuletzt besteht ein gewisser Widerspruch darin, den Schulen einerseits mehr Autonomie zuzusprechen und sie andererseits gleichzeitig einem gemeinsamen Direktor zu unterstellen.

Wahrscheinlich ist es sinnvoll, solche Cluster vorerst nur dort zu schaffen, wo die beteiligten Schulen sich freiwillig darauf einigen, weil sie den unbestreitbaren Verwaltungsvorteil sehen.
Uneingeschränkt begrüßen werden alle Schulen zweifellos den autonomeren Umgang mit der Schulzeit, der ihnen erlaubt, den Unterricht jeweils nach ihren Vorstellungen Projekt-bezogen, Fächer-übergreifend in großen oder in kleinen Arbeitsgruppen zu gestalten.
Und natürlich soll die Weiterbildung der Pädagogen deutlich intensiviert werden.

In Summe sind das – auch ohne die Einführung der „Gesamtschule“ – durchaus Reformen, die Österreichs PISA -Ergebnisse langsam, aber sicher verbessern werden.
Entscheidend wird dennoch die Einführung zusätzlicher verpflichtender Kindergartenjahre sein, die sicher erst lange nach den Wahlen von 2018 Früchte tragen. kann.

Ich halte die Österreicher aber für weitsichtig genug, den langfristigen Wert der rundum eingeleiteten Reformen zu erkennen und einzuschätzen.

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