Die Ereignisse in der Türkei dürften erhebliche Rückwirkungen auf Österreich haben.
Die Vorgänge in der Türkei betreffen Österreich vierfach.
– Österreich ist nach den USA und Holland der größte Türkei-Investor – dieses Investment ist durch die aktuellen Ereignisse schwerlich sicherer geworden.
– Die Auseinandersetzung mit den Kurden hat in Wien bereits zu Vandalismus gegen ein kurdisches Lokal geführt.
– Die Entwicklung der Türkei zu Erdoganistan wird Österreichs türkische Gemeinde zunehmend spalten.
– Und Österreich wird am meisten darunter leiden, dass das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei die aktuellen Turbulenzen kaum überstehen dürfte.
Behandelt die EU die Türkei weiterhin ernsthaft als Beitrittskandidaten, obwohl dort Rechtsstaat und Demokratie durch Recep Tayyip Erdogans paranoide Massenverhaftungen und Massenentlassungen, endgültig begraben wurden, so macht sie sich lächerlich – sie wird zur Karikatur einer Wertegemeinschaft. Behandelt sie die Türkei nicht mehr ernsthaft als Beitrittskandidaten, so wird Erdogan sie mit der Aufkündigung der Flüchtlingsvereinbarung bestrafen. Ich halte dieses letzte Szenario für das wahrscheinlichste.
Tritt es ein, so nimmt die Türkei keine Flüchtlinge mehr zurück. Damit bleiben die Grenzzäune, mit denen sich die Staaten entlang der Balkanroute gegen den Flüchtlingsstrom abgesichert haben, unverzichtbar. Mindestens so unverzichtbar ist damit Österreichs von Sebastian Kurz konzipierte „abschreckende“ Flüchtlingspolitik.
Privat tut mir das leid, und ich höre nicht auf, unsere Wohnung einem Flüchtling zur Verfügung zu stellen – aber als politischer Kommentator plädiere ich angesichts der aktuellen Ereignisse in der Türkei für die vorbeugende „Notverordnung“: Österreichs Fähigkeit, Flüchtlinge aufzunehmen, hielte einer neuerlich steigenden Belastung einfach nicht stand – man muss Gott danken, wenn der halbwegs friedliche Status quo erhalten bleibt.
Von den diversen Versionen über die Genese des türkischen Putschs halte ich die eines türkischen Kollegen für die wahrscheinlichste: Erdogan plante seit Monaten, den Militär- und den Justizapparat von allen Personen zu säubern, die nicht zu 100 Prozent zu seinen Gefolgsleuten zählen – egal ob sie sich seinem totalitären Machtanspruch als Anhänger Fethullah Gülens, als besorgte Bewahrer des säkularen Erbes Kemal Atatürks oder als überzeugte Demokraten und Verteidiger des Rechtsstaates widersetzen. Zum Zweck dieser Säuberung dürfte seine Geheimpolizei längst entsprechende Namenslisten vorbereitet haben – anders ist nicht zu erklären, dass sie schon am Tag nach dem Putsch zu Massenverhaftungen genutzt werden konnten. Von diesen Listen dürften einige Militärs Wind bekommen haben und wollten der bevorstehenden Säuberung durch einen ungenügend vorbereiteten Putsch zuvorkommen. Ihre Behauptung, sie hätten damit Rechtsstaat und Demokratie schützen wollen, ist in Kenntnis Erdogans zumindest nicht abwegig.
Rechtsstaat und Demokratie waren in der Türkei bereits seit Monaten beseitigt.
Zur Erinnerung: Am Beginn seiner Aktivitäten stand ein seiner Familie drohendes Mega-Korruptionsverfahren, das auch Geschäfte mit dem IS betraf. Um es zu verhindern, versetzte er mit Rückendeckung der absoluten parlamentarischen Mehrheit seiner AKP seit Jahren Polizeibeamte, Staatsanwälte und Richter. Als ihm der Wahlerfolg der Kurdenpartei HDP diese absolute Mehrheit im Juli des Vorjahres entriss, erweckte er den Kurdenkonflikt zu neuem Leben, indem er kurdische Dörfer bombardieren ließ. Dass die PKK mit Terroranschlägen reagierte, gab ihm die nachträgliche Rechtfertigung für sein Vorgehen. Sofort angesetzte Neuwahlen bescherten ihm dank des angefachten türkischen Nationalismus aufs Neue die benötigte absolute Mehrheit.
Um jedes künftige Risiko zu vermeiden, beschloss das Parlament schon wenig später die Aufhebung der Immunität der wichtigsten Abgeordneten der HDP, und willfährige Staatsanwälte stellten sie auch sofort unter ähnlich willkürliche Anklagen wie sämtliche kritische Journalisten.
Rechtsstaat und Demokratie waren in der Türkei also bereits seit Monaten beseitigt. Die jetzt diskutierte Wiedereinführung der Todesstrafe ist daran gemessen eine Lappalie.
Im so geschaffenen rechtsfreien Raum ging Erdogan daran, alle Personen auszuschalten, die seine Demokratur noch infrage stellen könnten: Voran natürlich hohe Militärs, hohe Richter und kritische Journalisten. Entsprechende Listen mit den Namen Hunderter „unzuverlässiger“ Personen waren vermutlich nicht anders vorbereitet als bei Österreichs „Anschluss“. Sie wären auch ohne Putsch eingesperrt worden.
Der war dann, wie Erdogan entwaffnend offen bekannte, „ein Geschenk Allahs“: Er konnte der Welt die von ihm exekutierte Beseitigung von Rechtsstaat und Demokratie als deren Verteidigung verkaufen.
Die Bevölkerung stand dabei zweifellos in ihrer Mehrheit hinter ihm: Sie schreibt ihm den unbestreitbaren wirtschaftlichen Aufstieg des Landes gut. Pressefreiheit und Rechtsstaat sind meist nur einer Minderheit ein Anliegen – und selbst die wollte beides ungern durch einen Militärputsch verteidigt wissen. Sie könnte das, so vermute ich, in ein paar Jahren bereuen.