Teheran erkennt seine militärische Schwäche. „Saubere Chirurgische Eingriffe“ sind eine militärische Illusion. Aber Netanjahu ermöglicht Antisemiten ein gutes Gewissen.
Ein militärischer Flächenbrand scheint uns erspart zu bleiben: Dass Israels „Iron Dom“ unter Beihilfe der USA, Großbritanniens, Frankreichs und peripher der US-finanzierten Luftabwehr des jordanischen Königs, 99 Prozent der 300 vom Iran abgefeuerten Drohnen und Raketen abfing, dürfte Teheran klar gemacht haben, wie chancenlos es im Krieg mit Israel wäre – es begnügt sich den Angriff zu feiern. Nun fordern die USA auch von Israel Genügsamkeit bei der „Vergeltung“- sie machten dabei nicht mit. Wie weit Benjamin Netanjahu das begreift, muss sich zeigen: Bisher huldigte er dem Credo, „Aug um Aug, Zahn um Zahn“ – jedenfalls ist das die Politik, mit der er politisch zu überleben hofft. Ich freilich hoffe, dass die bisherigen Ereignisse das ausschließen: Sein Versuch, das Oberste Gericht zu entmachten, hat das Land entzweit; weil er nur als Regierungschef einem Korruptionsprozess entgeht, hat er unfähige ultrareligiöse Partner in Kauf genommen; entsprechend katastrophal hat die Regierung versagt: obwohl er durch Jahre wohlwollend zusah, wie Katar die Hamas finanzierte und so einen funktionierenden Palästinenserstaat ausschloss, negierten seine Minister präzise Informationen, wann und wie die Hamas Israel überfallen würde; indem sie Truppen von der Grenze zum Schutz der illegalen „Siedler“ ins Westjordanland verlegten, wurde der Überfall zum Kinderspiel.
Die Bodenoffensive, mit der Netanjahu reagierte, so schrieb ich hier vor fünf Monaten, würde in ein Gemetzel münden, statt Israel sicherer zu machen. Die von mir angeführte Alternative – sich nach einem demonstrativen Luftschlag damit zu begnügen, ein technisch bereits entwickeltes System zum billigen Abfangen auch kleiner Raketen zu installieren – war freilich unrealistisch: Zurückhaltung war der Bevölkerung nach der brutalen Ermordung von 1.200 Landsleuten und der Verschleppung von 250 Geiseln nicht zuzumuten, und ohne militärischen Druck hätte die Hamas nicht eine Geisel freigegeben. Doch die von mir befürchteten Folgen sind eingetreten: Nach dem Tod von rund tausend Israelis und mindestens dreißigtausend Palästinensern (wie viele davon Hamas-Kämpfer sind, ist schwer zu sagen), ist Israel von intensivierter Feindschaft umgeben: der Iran will es seit jeher vernichten; seine libanesischen, irakischen, syrischen, jemenitischen Milizen beschießen Israel permanent; in Ägypten oder Jordanien wollte die Bevölkerung das genauso – nur ihre autoritären Regime verhindern es; Saudi Arabien wird lang brauchen, wieder über Frieden zu verhandeln. Und der weltweite Antisemitismus hat mit dem Tod der Mitarbeiter von „Worldwide Kitchen“ durch eine verirrte israelische Rakete einen historischen Höhepunkt erreicht.
Dabei ist Israel Opfer einer alten militärischen Gesetzmäßigkeit: Nur massivster Beschuss besiegt einen gut verschanzten Gegner. Die geballte US-Armee brauchte fünf Monate, um ein Bataillon deutscher Fallschirmjäger auszuschalten, das sich im zerbombten Montecassino verschanzt hatte. Eine Hamas zu besiegen, die viele Jahre und viele Milliarden der EU und Katars darauf verwendet hat, ein Tunnelsystem zu errichten, dessen Zugänge und Zentren sich durchweg unter Spitälern oder Schulen befinden, geht nur so blutig wie Israels Armee es tut. Der „saubere chirurgische Eingriff“ ist eine militärische Illusion – man hätte die Bodenoffensive nur weitestgehend unterlassen können. Sonst hingegen muss das ständige Kriegsverbrechen der Hamas – die Nutzung von Zivilisten als Schutzschild – zur Voraussetzung dessen werden, was man jetzt als Kriegsverbrechen Israels bezeichnet.
In Deutschland und Österreich bewahrten die Regierungen der „Vergangenheit“ wegen Augenmaß: Sie lehnten Resolutionen ab, die das Hamas- Massaker negierten. Überall sonst explodiert der Antisemitismus. Er war ja nie auf uns beschränkt, sondern es gab und gibt ihn überall und das war und ist zugleich seine angebliche Rechtfertigung: Es muss doch einen Grund haben, dass man „Juden“ überall ablehnt. Es gibt ihn tatsächlich: immer und überall sind sie jene nicht völlig „Anderen“, die dennoch ein „Wir“-Empfinden ermöglichen. Dass sie, die ursprünglich nirgends Bauern oder Handwerker sein durften, ihr Überleben damit zu sichern suchten, als Ärzte, Wissenschaftler oder Künstler besonders erfolgreich zu sein und dass die Ablehnung der Geldwirtschaft durch das Christentum zu ihrer Überrepräsentation in der Geldwirtschaft führte, bereichert den ubiquitären Antisemitismus um entsprechenden Neid. Im Verhalten der Juden gegenüber den Palästinensern sehen sich Antisemiten wie selten zuvor bestätigt – statt nur zu sehen, dass Juden Kriege nicht humaner als andere führen. „Gaza“ ermöglicht Antisemiten ein gutes Gewissen.
Selbst Joe Biden musste sich von Israel distanzieren, um bei den Wählern nicht an Boden zu verlieren. Dabei erwächst daraus eine groteske Konstellation: Gewinnt Donald Trump die Wahl, wird er Israel meines Erachtens höchst ungerecht gestatten, den Gazastreifen zu annektieren. Der von Biden geforderte „Palästinenserstaat“ wäre ungleich gerechter. Nur bezweifle ich, dass er sich gegenüber Israel anders verhielte als das Staatswesen der Hamas: Vermutlich weiterhin arbeitslose, junge Palästinenser haben das Gemetzel von „Gaza“ erlebt, ihren Schulbüchern entnommen, dass es kein Israel geben soll und dass sie ins Paradies kommen, wenn sie es bekämpfen. Ich zweifle, dass sie Frieden mit Israel wollen.
5 Kommentare
Was verstehen Sie unter einem herbeigeputschten Krieg?
Netanyahu kann nur mit Hilfe der konservativen Juden überleben, er hätte längst ins Gefängnis müssen, wäre er nicht immun. Das macht aber den Überfall der Hamas nicht ungeschehen, an dem Netanyahu nicht schuld ist und den Israel nicht unbeantwortet lassen konnte. Ich war immer ein Anhänger der 2-Staaten-Lösung, aber diese hat Israel durch die Unterstützung illegaler Siedlungen im Westjordanland mittlerweile unmöglich gemacht. Dadurch wird es auch auf lange Sicht keine friedliche Lösung des Problems geben – siehe meinen vorherigen Kommentar!
Selten wurde eine so komplexe Situation mit all ihren historischen Aspekten auf eine so übersichtliche Weise zusammengefasst.
Nicht neutral, zum Glück. Wo Unrecht geschieht, sollte man nicht neutral bleiben.
Ich durfte übrigens Dr. Ella Lingens in Bad Aussee kennenlernen und viele Gespräche mit ihr führen.
Mittlerweile habe ich ein Buch über die Deportation der Juden aus Venedig geschrieben,
sollten Sie es lesen wollen, schicke ich es Ihnen gerne.
Sehr herzliche Grüße, Edith Schreiber-Wicke
Ihre Aussagen treffen eindeutig den Nagel auf den Kopf ! Leicht einsehbar bei der ungeschickten Politik von N.
Trotzdem wichtig die Situation so darzustellen.
Kein Krieg ist human oder gerecht, „saubere chirurgische Eingriffe“ sind in diesem Zusammenhang ein Euphemismus, Krieg ist per se ein Verbrechen, sich über Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im Krieg aufzuregen eigentlich eine bewusste Negierung der bitteren Realität. Nach dem unvorstellbar grausamen Angriff der Hamas auf jüdische Zivilisten hatte Netanjahu keine andere Wahl als das, was er seither macht. Er kann nicht „ein bisschen Krieg“ führen gegen ein fanatisiertes Volk, das offensichtlich keine anderen Zukunftspläne hat als Israel zu vernichten.
Wie die Zukunft Israels zu sichern ist, ist allerdings schwer vorstellbar. Das ist ein künstlich geschaffener Staat auf einem arabischen Territorium, umgeben von feindlich gesinnten arabischen Staaten, der sich nur halten kann, weil er einerseits höchst gerüstet ist und andererseits im Schutz vor allem der USA steht, was er vermutlich dem hohen Anteil an (einfluss-)reichen jüdisch-stämmigen Amerikanern verdankt. Auch wenn offenbar kein arabisches Land die Palästinenser liebt (sonst wäre doch irgendein Nachbarstaat bereit, palästinensische Flüchtlinge aufzunehmen!), wird sofort, wenn Amerikas Schutzschirm löchrig wird, die vereinigte arabische Welt unter einem in Kürze mit Atomwaffen ausgerüsteten Iran und mit Hilfe Russlands über Israel herfallen, und der Staat Israel wird eine Randnotiz in der Geschichte werden. Vielleicht wären die Juden doch besser beraten, wenn sie nicht auf ihrer Besonderheit bestehen, sondern sich dort, wo sie leben, in die Bevölkerung assimilieren. Denn heute stehen ihnen alle Berufe und alle Türen offen…
Bitte werfen Sie nicht alle Juden in einen Topf. Ein großer Teil der israelischen Bevölkerung protestiert schon seit Monaten gegen den Zionisten Netanjahu, der ohne den herbeigepuschten Krieg gegen das Herbergsland Palästina, schon vom eigenen Volk verjagt worden wäre.