Das Volk stimmt ab!

Das Nein zum Frieden in Kolumbien ist so vernünftig wie der Brexit. 


Die FPÖ will für Österreich dringend mehr Volksabstimmungen. Wie zielführend die sind, konnte man nach dem Brexit soeben in Kolumbien beobachten: Der Friedensvertrag, mit dem Staatschef Juan Manuel Santos mehr als ein halbes Jahrhundert bewaffneter Auseinandersetzungen mit der FARC beenden wollte und dafür den Friedensnobelpreis 2016 erhielt, wurde in einer Volksabstimmung abgelehnt. Zwar bei einer Wahlbeteiligung von nur 37,4 Prozent – aber eine begleitende Umfrage lässt befürchten, dass es bei höherer Wahlbeteiligung nicht anders gewesen wäre: 80 Prozent der Kolumbianer sprachen sich für „Rache“ an der FARC aus.

Unbegreiflich ist das natürlich nicht: Der Kampf der linken Rebellen, der ursprünglich einer Landreform gegolten hatte, war zunehmend zu Terror, Raub und Vergewaltigung entartet und wurde durch Drogenhandel finanziert. Er kostete 260.000 Menschen das Leben – Millionen wurden vertrieben.

Dennoch wollte Santos „Rache“ vermeiden, weil er wusste, dass sie den Frieden zunichte machen würde. Nach dem Muster Südafrikas sollten Verbrechen zwar geklärt, nicht aber bestraft werden. Die Opfer sollten Entschädigungszahlungen erhalten – aber die Guerilleros gleichzeitig kleine Zahlungen zum Aufbau einer bürgerlichen Existenz. Denn es bestand die eminente Gefahr, dass 9000 lebenslange Kämpfer, die nun ihre Waffen abgeben sollten, es vorziehen könnten, ihre Fähigkeiten in den Dienst von Drogenbanden zu stellen. Das wollte Santos, in dessen Amtszeit die Drogenkämpfe halbwegs unter Kontrolle sind, dringend vermeiden. Nicht zuletzt sollte es zu einer vorsichtigen Landreform kommen, wie sie (in freilich viel größerem Umfang) das ursprüngliche Ziel der FARC gewesen war. Im Parlament wollte Santos ihren Führern eine bestimmte Zahl von Sitzen zugestehen, um ihre Bewegung in die Politik zu integrieren und ihnen Verantwortung für den weiteren Friedensprozess zu übertragen. Ein klügerer Friedensplan war schwer zu konzipieren. Das Volk hat ihn zu seinem größtmöglichen wirtschaftlichen und politischen Schaden verworfen. (Zumindest vorerst: Immerhin hat die Führung der FARC sich weiter zum Frieden bereit erklärt, und Santos hat erklärt, ihn weiterhin anzustreben.)

Es war zu allen Zeiten ein Vorurteil, dass das Volk grundsätzlich sinnvoll – zum eigenen Vorteil – abstimmen würde.

Wie in England irrten die Meinungsforscher, indem sie ein „Ja“ zum Vertrag prophezeiten. Wie in England die Ablehnung der Zuwanderung in den Regionen das stärkste Wahlmotiv war, wo es die geringste Zuwanderung gab, lehnten die Kolumbianer den Friedensvertrag dort (in den Städten) am deutlichsten ab, wo die FARC am wenigsten gewütet hatte, während er in den ländlichen Regionen, wo Rache viel naheliegender gewesen wäre, die größte Zustimmung fand. Wie in England die Reden des beliebten Londoner Ex-Bürgermeisters Boris Jonson den Ausschlag für den Sieg der „Out“-Bewegung gaben, sicherten die Reden des angesehenen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe den Sieg der „Nein“-Bewegung. Seine Parole, dass man die Anführer der FARC ins Gefängnis werfen müsse, traf die Amygdala wie „Britain first.“ Wobei Johnson auch das gleiche Hauptmotiv wie Uribe hatte: So wie er Cameron, der ihn im Kampf um den Parteivorsitz geschlagen hatte, eine Niederlage bescheren wollte, wollte Uribe Santos eine Niederlage bescheren, nachdem er ihm im Kampf um die Präsidentschaft unterlegen war. Das Volk hat beiden Tribunen diese Befriedigung ihrer emotionalen Bedürfnisse ermöglicht – zu Lasten der eigenen Zukunft.

Es war zu allen Zeiten ein Vorurteil, dass das Volk grundsätzlich sinnvoll – zum eigenen Vorteil – abstimmen würde. Es hat in Deutschland 1933 Hitler zur Macht verholfen und hätte ihn 1940 mit 90 Prozent gewählt. Es hat Silvio Berlusconi in Italien vier Mal nacheinander Gelegenheit gegeben, das Land zu ruinieren. Es stärkt in der Türkei oder Russland die Macht Recep Erdoğans und Wladimir Putins, statt sie einzuschränken. Und dass in den USA Donald Trump eine Chance gegen Hillary Clinton hat, spricht auch nicht unbedingt für seine Urteilsfähigkeit.

Die Demokratie ist zweifellos die schlechteste aller Regierungsformen – ausgenommen alle anderen (Winston Churchill). Deshalb sollte uns ihre Schwäche veranlassen, alle Mechanismen zu stärken, die Fehlentscheidungen des Volkes Grenzen setzen: Die Verfassungen und die zughörige Gerichtsbarkeit kann gar nicht energisch genug gewahrt werden. (Auch wenn sie gelegentlich zutreffende Wahlergebnisse zu Gunsten problematischer Neuwahlen annulliert.) Gleiches gilt für alle Einrichtungen des Rechtsstaates – sie wenigstens sollten sakrosankt sein. Russland und die Türkei zeigen, dass auch funktionierende Medien unverzichtbar sind. Nicht, dass das Fehlentscheidungen des Volkes verhindert – aber es erschwert sie. Erschwert werden sie nicht zuletzt, indem das Volk im Rahmen parlamentarischer Abstimmungen und nicht im Wege von Plebisziten entscheidet.

Letztere funktionieren ausschließlich – so halbwegs – in der Schweiz, wo sie seit 500 Jahren geübt werden.

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