Kann man die Mittelmeer-Route schließen?

Auf ihr kommen immer mehr Flüchtlinge nach Europa, unter denen kaum Asylberechtigte sind. Sebastian Kurz glaubt an die Möglichkeit einer Sperre. Ein „runder Tisch“ diskutierte, wie realistisch sie ist.

Sebastian Kurz im Wahlmodus begriffen, hat das Problem einmal mehr ungeschminkt angesprochen: So wie sie derzeit abläuft, kann die EU der Fluchtbewegung aus Westafrika über das Mittelmeer nach Italien nicht Herr werden. Es kommen kaum Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten, sondern fast nur solche, die sich in der EU, voran in Deutschland, aber auch Österreich, ein besseres Leben erhoffen.

Sein Vorschlag zur Abhilfe einmal mehr: Die Route sperren; die aus Booten Geretteten in „Aufnahme-Zentren“ rückführen, die in afrikanische Staaten ausgelagert sind; bis sich herumgesprochen hat, dass man via Schlepper übers Mittelmeer auf keinen Fall nach Europa gelangt.

Prompt hat Bundeskanzler Christian Kern – ebenfalls im Wahlmodus begriffen – diesen Kurz Vorschlag einen undurchführbaren „Vollholler“ genannt. Sein Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil hat in der sonntäglichen Pressestunde zwar behauptet, nicht anders als Kern zu denken, dann aber wortreich ein „EU-Konzept“ gefordert, das sich kaum vom Kurz-Konzept unterscheidet.

Eine seriöse Möglichkeit, die diametralen Einschätzungen gegeneinander abzuwägen bot Sonntag Abend der „runde Tisch“ des ORF, zu dem Claudia Reiterer einmal mehr nur kompetente Leute eingeladen hatte: die Nahostexpertin Karin Kneissl; den Vorsitzenden der Europäischen Stabilitätsinitiative und erfolgreichen Unterhändler des Türkei-Deals Gerald Knaus; den Leiter des Büros zur Bekämpfung von Menschenhandel und Schlepperei des Bundeskriminalamtes Gerald Tatzgern; den internationalen Migrations-Experten Belachew Gebrewold; und den Geschäftsführer von „Ärzte ohne Grenzen“ Mario Thaler.

Gleich zu Beginn wies Karin Kneissl darauf darauf hin, dass es an verschiedensten Stellen sehr wohl gelungen sei, Fluchtwege über das Meer zu schließen. Insbesondere den (durch lange Zeit heftig genutzten) zwischen Marokko und Spanien durch ein bilaterales Abkommen, in dem Marokko sich verpflichtete, Fluchtwillige mit seinen Polizeikräften zurückzuhalten, während Spanien Marokko bevorzugte Wirtschaftsbeziehungen und die Wahrnehmung seiner internationalen politischen Interessen (etwa im Konflikt mit dem Tschad) zusagte.

Aber auch zwischen Kuba und den USA sei die Massenflucht von Kubanern unterbunden worden, indem die USA sich bereit erklärten, jedes Jahr eine bestimmte Zahl von Kubanern legal aufzunehmen.

Zu Recht wurde sofort eingewendete, dass es sich in beiden Fällen um funktionierende Staatswesen gehandelt habe. Allen Beteiligten war klar, dass eine vergleichbare Lösung mit Libyen, von wo derzeit die meisten Flüchtlinge, egal aus welchen Ländern sie ursprünglich kommen, aufbrechen, kaum möglich ist und dass auch die stabileren Küsten- Staaten sich solchen Abkommen eher verweigern.

Kurz` Vorstellung, dass man sie mit der Drohung, ihnen die Entwicklungshilfe zu kürzen, zum Einlenken bringen könnte, wurde ebenso einvernehmlich als irreal angesehen: Österreich hätte mangels ernsthafter Entwicklungszahlungen so gut wie kein Druckmittel in der Hand, Italien täte sich ähnlich schwer. Die EU in ihrer Gesamtheit, so erläuterte Belachew Gebrewold sei mittlerweile als Investor in massiven Rückstand gegenüber China geraten, das sein Engagement nicht ans Menschenrechts- Fragen knüpfe. Ich persönlich hätte angefügt, dass diese Kurz-Idee widersinnig ist: Flucht- Staaten die karge Entwicklungshilfe auch noch zu kürzen, verschlimmerte die Zustände, die die Bewohner zur Flucht bewegen.

Nur wenig ist völkerrechtlich völlig unbedenklich

Die einzige sowohl realistische wie völkerrechtlich unbedenkliche Lösung sieht in den Augen des Vaters des Türkei-Deal Gerald Knaus folgendermaßen aus: Es sollte möglich sein, mit den Haupt-Herkunftsländern der Flüchtlinge, voran Nigeria, Abkommen über die künftige Rücknahme geflohener Landsleute zu treffen, indem man ihnen (wie Kuba) zusagt, jedes Jahr ein gewisses Kontingent an Nigerianern legal in die EU einreisen zu lassen. Das Geld, das ihresgleichen aus Europa nach Hause überweist, sei für den Staat unverzichtbar.

Einwand Tatzgern: Dann könnte und müsste man ihnen gleich einfach Geld geben.

Die Entscheidung über einen allfälligen Anspruch auf Asyl, so erläuterte Knaus den Teil seines Konzeptes, den Tatzgern wohl als dessen größten Schwachunkt ansieht, müsste weiterhin, wenn auch in beschleunigten Verfahren, in Italien getroffen werden. Denn wer bei seiner Rettung auf ein Schiff aus der EU aufgenommen wird- eine Rettungsaktion, die das Seerecht zwingend vorschreibt- befindet sich auf EU-Boden und hat damit vom Völkerrecht her Anspruch auf ein Asylverfahren in der EU.

Mario Thaler von „Ärzte ohne Grenzen“ verwahrte sich bei dieser Gelegenheit gegen den Kurz-Vorwurf, die NGOs machten mit den Schleppern gemeinsame Sache, indem sie Schlauchbooten, die gar nicht mehr mit Treibstoff ausgestattet würden, bis in die 12 Meilenzone entgegenkämen, um auf Anruf der Schlepper die darauf wartenden Flüchtlinge zu retten und sicherzustellen, dass sie auf soliden Frontex-Schiffen weiterbefördert werden. „Ärzte ohne Grenzen“ hielte sich vielmehr penibel an die zwölf Meilen-Zone und folgte mit der Rettung in See-Not Befindlicher zwingendem See-Recht. Sie würden nicht von den Schleppern, sondern von einer zuständigen EU-Agentur an ihren Einsatzort dirigiert. Und im Übrigen würden die mit Abstand meisten Menschen direkt von Frontex gerettet.

Tatzgern meldete zwar gewisse Zweifel an, dass alle NGOs sich so verhielten – man habe auch anderes beobachtet, aber auch er kann in der Tätigkeit der NGOs nicht das eigentliche Problem sehen.

Wohl aber sieht er es darin, dass Frontex „die Aufgabe der Schlepper übernimmt, die Flüchtlinge übers Meer bis nach Italien zu bringen.“ Von dort könnten sie dann nach Hause telefonieren, dass sie gut angekommen sind und über soziale Medien verbreitet sei das die entscheidende Ermutigung anderer, sich auf den Weg zu machen.

Auch Belachew Gebrewold kritisiert eine Studie, die diesen Zusammenhang bestreitet, als wissenschaftlich nicht haltbar.

Jeder zweite Nigerianer, so weiß Karin Kneissl, will gemäß einer Gallup-Umfrage Nigeria verlassen.

Das zeigt in etwa die Dimension der Probleme, die ein Abkommens mit Nigeria aufwirft.

Nur wer sicher weiß, dass er nicht durchkommt, macht sich vielleicht nicht auf den Weg

Ich glaube, dass dies die Grundproblematik ist, die Kurz richtig erkannt hat. Auch ich bin überzeugt, dass sich Millionen junge, schon wegen ihrer Jugend nicht abweisbare Afrikaner so lange auf den Weg übers Mittelmeer machen werden, als sie am europäischen Ufer ankommen. Nur wer sicher weiß, dass er nicht durchkommt, macht sich vielleicht nicht auf den Weg.

Dieses Wissen zu verbreiten und zu sichern ist nicht nur geboten, weil die EU so viele Menschen selbst bei viel besserem Willen unmöglich integrieren kann, sondern auch weil die Massen-Abwanderung zum massiven Schaden der verlassenen Länder geschieht: Sie verlieren Millionen Euro, die die Fliehenden an Schlepper bezahlen, statt dass sie im Land investiert würden. Und sie verlieren vor allem ihre initiativsten, fast immer am besten ausgebildeten jungen Leute.

Ich glaube deshalb, dass es trotz des Völkerrechts – das zu allen Zeiten ein wandelbares, den Umständen angepasstes gewesen ist – zu einer Lösung kommen muss, die irgendwo zwischen Kurz und Tatzgern angesiedelt ist: Mit viel Geld erkaufte Rücknahme-Abkommen mit Ägypten, Marokko, Tunesien, aber vor allem mit den Fluchtstaaten wie Nigeria oder Eritrea selbst, denen, wie auch Kurz stets fordert, legale Auswanderungskontingente zugesagt werden müssen.

Und dazu vielleicht doch auch Abkommen mit libyschen Stammesfürsten, die derzeit massiv vom Geschäft der Schlepper profitieren – finanziellen Argumenten also jedenfalls zugänglich sind.

Ich bin aber, in gar nicht so großer Entfernung zu Hans Peter Doskozil, der Ansicht, dass man auch den Einsatz von Soldaten in Erwägung ziehen muss. Wenn es den Spaniern möglich ist, die Enklave von Ceuta und Mellia durch Zäune, Verhandlungen, aber auch durch „Sicherheitskräfte“ vor dem Ansturm von Flüchtlingen zu sichern, die dort ebenfalls aus allen möglichen afrikanischen Ländern kommen, dann sollte es einer Truppe, zu der mehrere EU-Staaten beitragen, doch möglich sein, ein von hohen Zäunen umgebenes, nach europäischen Standard verwaltetes Flüchtlingslager in Libyen solange gegen Chaos und Terror zu sichern, bis sich über die sozialen Medien herumgesprochen hat, dass es auch von Libyen aus kein ungeordnetes Durchkommen nach Italien gibt.

Einer reaktionären Haltung lasse ich mich nur von jemandem bezichtigen, der wie ich im Laufe der Jahre mindestens 15 Flüchtlinge in seine Wohnung aufgenommen hat.

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