Wer die Überzeugung teilt, dass nur die „Gesamtschule“ zu lichten PISA-Höhen führt, den muss das türkis-blaue Bildungspaket enttäuschen. Ich teile sie nicht sondern meine, dass der finnische PISA-Erfolg weniger dem „Gesamt“ als folgenden Umständen zu danken ist:
- Auf einen Lehrer kommen nur 14 Schüler und er kann bei Bedarf auch noch auf Psychologen und Sozialarbeiter zurückgreifen.
- Lehrer werden lang und intensiv ausgebildet und genießen hohes Sozialprestige.
- Es gibt eine ausgeprägte Schulautonomie.
- Kinder nichtfinnischer Muttersprache sind relativ selten.
Aus allen diesen Gründen meine ich, dass die Finnen auch mit unserer Teilung in Pflicht – und höhere Schulen beste PISA-Ergebnisse erzielten.
In dieser Meinung bestärkt mich, dass dies der Schweiz mit unserem Schulsystem durchaus gelingt: Sie hat die Finnen in „Mathematik“ überholt und liegt nirgends signifikant hinter ihnen.
Wenn man also bereit ist, zu akzeptieren, dass auch unser Schulsystem funktionieren kann, dann stellt das türkis-blaue Schulpaket einen Fortschritt dar: Es begegnet dem enormen Problem so vieler Kinder nicht-deutscher Muttersprache durch ein verpflichtendes zweites Kindergartenjahr und drängt auf bessere Ausbildung der Kindergärtnerinnen. Und es forciert den Ausbau von Ganztagsschulen mit verschränktem Unterricht, auch wenn es die Entscheidung darüber leider wie bisher einer Abstimmung unterwirft.
Auch in der Wiedereinführung von Noten kann ich keinen „Rückschritt“ sehen: Kinder verbessern sich m.E. lieber von einer 3 auf eine 2, als zu lesen „bei den letzten Diktaten hast du fast keine Fehler mehr gemacht“. Die durchaus nützliche schriftliche Ergänzung bleibt ja weiter möglich. Hingegen halte ich für ein großes Problem, Kinder, die bis dahin keine Noten kannten, in der 4. Klasse erstmals damit zu konfrontieren.
Zwar hat die SPÖ das zweite Kindergartenjahr und die Ganztagsschule immer schon gefordert und ist darin von der ÖVP massiv gebremst worden, aber das ändert nichts daran, dass die Kurz-ÖVP in ihrer Koalition mit der FPÖ von dieser Bremse heruntergestiegen ist. Rein sachlich muss man dem türkis-blauen Schulpaket daher ein gutes Zeugnis ausstellen.
Erstaunlicherweise haben das nicht viele Leute getan. Auch ich primär nicht. Vielmehr habe ich meinen ersten Text, den ich sofort nach der entsprechenden ZIB-Meldung fürs Internet verfasst habe, eher abwertend mit „Bei der Bildung kaum Neues“ überschrieben und sogar einen sachlichen Fehler bezüglich des zweiten Kindergartenjahres gemacht.
Weil ich sonst ziemlich penibel bin und mich um Unvoreingenommenheit bemühe, habe ich mich gefragt, warum sie mir in diesem Fall so offenkundig abgegangen ist – und, wie ich meine, auch einigen anderen Leuten abgeht.
Die Antwort ist in meinem Fall einfach: Ich habe drei meiner ersten Lebensjahre ohne meine Mutter zugebracht, weil sie wegen Judenbegünstigung in Auschwitz eingesperrt war. Und nun steht mir mit H.C. Strache ein Vizekanzler ins Haus, der in seiner Jugend eine Neonazi war und, nicht mehr ganz jung, drei Finger zum Neo-Nazi-Hitlergruß erhoben hat. Dazu eine FPÖ, die mittlerweile von Burschenschaftern dominiert wird, die nicht selten daran zweifeln, dass Österreich 1945 befreit worden ist.
Auch Kollegen, die nicht mehr ganz so direkt wie ich von der NS-Zeit betroffen waren haben mit dieser FPÖ ein Problem, das den journalistischen Umgang mit ihr erschwert.
Aber bei allem berechtigten Misstrauen müssen wir ihr in der Berichterstattung doppelt sachlich begegnen. Sonst kann uns im konkreten Fall z.B. passieren, dass sich die PISA-Ergebnisse sehr wohl verbessern und man uns vorwirft, dass wir das partout nicht für möglich halten wollten.
Denn Ähnliches ist in der Frage der Zuwanderung passiert: Als Jörg Haider in den frühen 90er-Jahren erklärte, man müsse die Zuwanderung kontingentieren, wurde diese Forderung als faschistoid diffamiert.[1] Ähnliche grün-rote Reaktionen auf alles, was die FPÖ an der Ausländerpolitik kritisierte, haben entscheidend zu ihrem aktuellen Wahlerfolg beigetragen: Die Bevölkerung, die mit den Problemen dieser Politik leben muss, gewann den Eindruck, dass nur die FPÖ schon immer das Richtige gesagt hat.
Diese Eindruck ist zwar auch falsch: Sie hat vorhandene, unterschätzte Probleme dazu genutzt, überflüssig gegen „Ausländer“ zu hetzen und sie hat einen Einwanderungs-Stopp schon in Zeiten gefordert, in denen wir Zuwanderung durchaus noch vertragen haben- diese Hetze war sehr wohl „faschistoid“.
Aber die Kritik an der FPÖ hat genau diese Differenzierung vermissen lassen. Und zwar in allen Bereichen: Die schwarz-blaue Koalition unter Wolfgang Schüssel wurde z.B. zum Desaster erklärt, obwohl sie wirtschaftlich sehr erfolgreich war – wenn auch allzu erfolgreich für die privaten Taschen einiger Beteiligter.
Aber nur daran war harsche Kritik berechtigt.
Diese Einseitigkeit sollte sich nicht wiederholen. Ich glaube, dass größtmögliche Sachlichkeit bei größtmöglicher Differenzierung die einzige erfolgreiche Möglichkeit für den journalistischen Umgang mit Türkis-Blau darstellt.
Sebastian Kurz und H.C. Strache haben in meinen Augen z.B. gute Gründe, wenn sie die Zuwanderung heute auf Asylberechtigte gemäß Genfer Konvention reduzieren wollen. Nur wenn man ihnen das zugesteht, kann man erfolgreich Kritik an ihrer diesbezüglichen Wortwahl üben: Sie verbreiten einmal mehr eine Stimmung überflüssiger Fremdenfeindlichkeit.
[1] Ich wurde seinerzeit geprügelt, als ich sie in der „Wochenpresse“ vernünftig“ nannte.
11 Kommentare
Es mutet schon sehr scheinheilig an, wenn Sie, verehrter Herr Lingens, sich erst jetzt zu Wort melden. Schon seit Jahren schwelt der ideologische KAMPF zwischen Befürwortern der differenzierten Schulbildung (eben schwarz, blau) und der linken (roten und grünen) Gleichmacherei (vulgo Gesamtschule). Mit Ihrem Namen und Ihrer Reputation hätten Sie dazu schon längst beitragen können, peinliche Experten a la Salcher&Co. zu verhindern.
Sehr geehrter Herr Lingens!
In diesem Ihren Beitrag bestätigen Sie für mich wieder einmal eindrucksvoll, warum ich seit Jahrzehnten Ihre Kommentare so schätze: Ihre journalistische Arbeit ist für mich geprägt vom kritischen Pluralismus Karl Poppers, der in seinem Entwurf zu einer neuen Ethik für intellektuelle Berufe unter anderem Folgendes vorgeschlagen hat: „Es ist unmöglich, alle Fehler zu vermeiden. Die Intuition kann uns auch irreführen…Selbstkritische Haltung und Aufrichtigkeit werden zur Pflicht…Rationale Kritik muss geleitet sein von der Idee, der objektiven Wahrheit näher zu kommen. Sie muss in diesem Sinne unpersönlich sein.“ – Möge uns in einer kritischen, sachlichen Diskussion, in einem rationalen Wettstreit der Argumente die „offene Gesellschaft“, die Demokratie erhalten bleiben.
Vielleicht hat der finnische Erfolg auch gar nichts mit dem Gesamtschulsystem zu tun, s. link unten.
http://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/warum-der-finnische-pisa-erfolg-nichts-mit-dem-gesamtschulsystem-zu-tun-hat-15035526.html
Anmerkung zu Finnland: angeblich agieren LehrerInnen dort nach dem Motto „Wir lassen niemanden zurück.“ Für ihre Schüler sich verantwortlich fühlende Lehrer, und Schüler, die sich immer unterstützt fühlen – das ist dann ein anderes Klima als bei uns.
Sehr geehrter Herr Lingens,
ich habe diesen Artikel 2-Mal gelesen und musste mir fast die Augen reiben — ich glaube nicht, dass ich Ihre Argumentation („Auch mit der FPÖ kann Vernünftiges gelingen“) schon einmal von einem österreichischen Kommentator, der nicht rechts der Mitte ist, gehört habe. Meine persönliche Überzeugung ist: wäre man Jörg Haider mit dieser Mentalität von Anfang an begegnet, dann wäre Jörg Haider nie jener Mythos geworden, der er für viele wurde.
Dass BK Kern bei jeder Gelegenheit den bevorstehenden schwarzblauen gesellschaftlichen Rückschritt prophezeit, ist menschlich verständlich. Immerhin hat er ja eine Wahl verloren. Dass aber selbst anderwertig hervorragende Kommentatoren wie z. B. Hans Rauscher hinter jeder tatsächlichen oder auch nur angedeuteten ÖVP/FPÖ Maßnahme bereits eine Rückkehr zum Ständestaat orten, ist mir unverständlich. Frei nach dem Motto: sobald es nur irgendeinen Konnex zur FPÖ hat, muss es schlecht sein.
Ich gratuliere Ihnen, dass Sie die Einseitigkeit bzw. mangelnde Differenzierung bei FPÖ-Kritiken der Vergangenheit jetzt mit Ihrer Unterschrift bestätigt haben. Ja, diese Einseitigkeit sollte sich nicht wiederholen und ganz besonders ja: größtmögliche Sachlichkeit bei größtmöglicher Differenzierung wird die einzige erfolgreiche Möglichkeit für den journalistischen Umgang mit Türkis-Blau darstellen!
Lasst sie arbeiten. Das Wahlergebnis entspricht dem gesellschaftlichen Mainstream. Der gleiche Mainstream übrigens, der in den 70er-, 80ger-Jahren Europa durchwehte, was nicht nur Kreisky und seinem Team zu Mehrheiten verhalf, sondern der Sozialdemokratie insgesamt zupass kam. Europa war damals links. Jetzt weht der Wind von rechts. Das wird wohl seine Gründe haben.
Die (auch grüne) Linke muss das (endlich) zur Kenntnis nehmen. Unser Wahlergebnis fiel nicht vom Himmel. Ob Ausländerthema oder Bildungsreform, der Eindruck blieb immer derselbe: Ideologie bestimmt das Handeln. Erfolg? Nicht so wichtig. So geriet die Bildungsreform zur Endlosschleife mit anhaltend desaströsen Vergleichswerten in Europa. Jahrzehntelang viel Lärm (und viel Geld) um nichts. Wenn sich nun die Noch-(und Kurzzeit)Bildungsministerin hinstellt und schon vorbeugend „ihre erfolgreiche Arbeit in Gefahr sieht“, sei die bescheidene Frage gestattet: Welche Erfolge meint sie?
Dass die Flüchtlings(besser: Zuwanderungs)problematik nicht mit Gutmenschentum und Leugnen sichtbarer Probleme bewältigbar ist, sagt einem der simple Hausverstand. Selbstverständlich muss Deutsch die Unterrichtssprache bleiben, auch an allen Schulen in Wien. Selbstverständlich haben sich Zuwanderer zu integrieren und unsere Gesetze und Lebensform zu akzeptieren, wollen sie auf Dauer hier bleiben. Und selbstverständlich ist alles gegen das Aufkommen einer Parallelgesellschaft zu unternehmen, am besten natürlich bereits in den Schulen. Dort, wo es solche schon gibt, ist alles zu versuchen, sie wieder abzuschaffen.
Das hat nichts, aber auch gar nichts mit Faschismus oder Islamophobie zu tun.
Vielleicht sollter man die FPÖ und ihre Burschenschafter vorrangig deswegen kritisieren: der fehlenden Abgrenzung zum Nationalsozialismus wegen. Das schließt nicht aus, dass einzelne ihrer alltäglichen Maßnahmen vernünftig sein können. Leider. Offenbar wollen sie bweisen, „Rechte sind eh nicht so“. Aber wenn sie in ihre Bierkeller gehen, sind sie schon so und träumen vom autoritären System. Leider sehen das wenige und es ist den meisten Wählern offenbar egal. Vielleicht fehlt auch – außerhalb linker akademischer Milieus – eine breite Aufklärung darüber. Und ja, die Sozialdemokratie hat die Zuspitzung beim Migrantenthema – in guter Absicht nicht faschistisch sein zu wollen – übersehen und ihre Glaubwürdigkleit bei breiten Schichten dadurch offenbar eingebüßt. Leider, ich freu mich nicht über diese Etwicklung.
Haben sie eine Ahnung, was Sozis in ihren Beisln so alles sagen? Und nicht nur dort …
„Gute Absicht“ ist halt in der Politik zu wenig. Da wird man in einer Demokratie eben abgewählt, wenn keine wirksamen Aktionen folgen.
„Zwar hat die SPÖ das zweite Kindergartenjahr und die Ganztagsschule immer schon gefordert und ist darin von der ÖVP massiv gebremst worden, aber das ändert nichts daran, dass die Kurz-ÖVP in ihrer Koalition mit der FPÖ von dieser Bremse heruntergestiegen ist.“
Also Sie loben die Masche der ÖVP, in der Koalition mit der SPÖ deren vernünftige Vorschläge blockiert zu haben, damit diese dann bei den Wahlen dafür „bestraft“ werden würde, obwohl gerade das von Ihnen angeführte Beispiel klar beweist, dass es für das ständige „Njet“ der ÖVP eben nie sachliche, sondern immer nur wahltaktische Motive gab. Ich nenne dieses Verhalten der ÖVP hingegen: hinterfotzig.
Bei „hinterfotzig“ bin ich voll bei ihnen. Aber dass die Linken bei der „Ausländerfrage“ das Gespür „der eigenen Leute“ verlassen hat, sollte ebenfalls unbestritten sein – zumindest hat es das Wahlergebnis klar bestätigt. Dass eine relativ unerfahrene, nicht-authentische politische Sprechpuppe – S. Kurz – zum „Star“ aufsteigen konnte, zeigt mehr als deutlich, wie die Rot-Grünen am Sand sind. Und einige Monate vorher war sogar die Strache-FPÖ bei uns Umfrageweltmeister. Dagegen ist „hinterfotzig“ – zumindest politisch – vernachlässigbar.
Aber „hinterfotzig“ sind auch Rote, die für die Gesamtschule sind, und – wenn sie es sich leisten können – ihre Kinder auf Privatschulen schicken. Und da kenne ich einige …
Dass ein Kurz & Strache einen Kern klar besiegen konnte, hat nur „einen“ Hauptgrund: Das „Ausländerthema“. Man braucht sich nur die „täglichen Einzelfälle“ geben, über die die Medien berichten (müssen).
Zum Schulthema: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (Ludwig Wittgenstein) gilt natürlich auch für den Lernerfolg – auch einer ganzen Klasse. Und wenn in Wien über 50% der SchülerInnen Deutsch nicht als Umgangssprache hat, muss der Lernerfolg darunter leiden und auch das Land mittelfristig zurückfallen. Mit solchen Gedankengängen wird man von „aufrechten Sozialdemokraten“ jedoch als Nazi verunglimpft.
Leider hat sich „Rot-Grün“ zerstört. Wenn man sich das Bildungsthema und die massive „Zuwanderung“, deren Vermehrung und Nachzug anschaut, ist man fast geneigt zu sagen „Gott sei Dank“.