Auch Deutschlands Wähler bestimmen nicht mehr, wer das Land letztlich regiert. Die Grünen haben die Chance auf weniger „Ausgabenbremse“ und „Lohnzurückhaltung“ vertan.
Nie zuvor war so offen, wie die künftige deutsche Regierung beschaffen sein wird. Am ersten Platz liegt die SPD mit 25,7 Prozent gefolgt von der Union mit 24,1 Prozent und den Grünen mit ca. 14,8 Prozent. Relevant für eine Dreierkoalition ist nur die FDP mit knapp 11,5 Prozent, die „Linke“ fällt mit 5 Prozent rein rechnerisch aus. Die AfD mit 10,3 Prozent ist unerheblich, weil niemand mit ihr koalieren will.
Doch die überraschende Reihung ist kaum weltanschaulich begründet – es ging im Wahlkampf fast nur um Personen. Die SPD dankt ihren Spitzenplatz ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, der den rechten Flügel der Partei repräsentiert und dessen größtes Atout darin besteht, dass er als Finanzminister Angela Merkels nicht anders als sein Vorgänger Wolfgang Schäuble agierte, als einziger Regierungserfahrung besitzt und so mehr „Kontinuität“ als der Kandidat der Union Armin Laschet ausstrahlt.
Der hat es fertig gebracht, die ursprünglich deutliche Zustimmung zur Union von 35 auf 24 Prozent zu reduzieren. Nachdem er sich innerhalb der CDU gegen den Kandidaten der „Wirtschaft“ Friedrich Merz durchgesetzt hatte, setzte die CDU bekanntlich durch, dass er gegen den weit populäreren CSU-Chef Bayerns Markus Schröder zum gemeinsamen Kanzlerkandidaten gekürt wurde. Dass Schröder, aber auch zahlreiche Funktionäre immer wieder Zweifel an dieser Kür angemeldet haben, übertrug sich zwangsläufig auf die Wähler, zumal Laschet in etwa das Charisma von SP-Geschäftsführer Christian Deutsch ausstrahlt. Den entscheidenden Fehler beging er bei der Flutkatastrophe in seiner Heimat Nordrhein -Westfahlen: Statt sich voran um die Opfer zu kümmern, machte er Wahlkampf. Einen ähnlichen Absturz in der Wählergunst verantwortet Annalena Baerbock: Obwohl der Klimawandel immer offensichtlicher wurde, stürzen die Grünen, die im März mit 27 Prozent noch Platz eins belegt hatten, auf die aktuellen 14,6 Prozent ab. Baerbock war, um des Zeitgeistes willen, ihrem weit bekannteren und populäreren Co-Parteichef Robert Habeck vorgezogen worden, und obwohl der nicht gegen sie stichelte, verspielte sie ihre Glaubwürdigkeit, indem sie Nebeneinkünfte anzumelden vergaß, ihren Lebenslauf schönte und ein Buch schrieb, das sich über weite Strecken als abgeschrieben erwies. Die FDP mit ihrem neoliberalen Chef Christian Lindner konnte ihren Wähleranteil leicht steigern – die „Linke“, die ihre Gallionsfigur Sahra Wagenknecht ausschließen und aus der Nato austreten will, liegt knapp über der 5 Prozent-Hürde.
Wirklich neu für Deutschland ist, dass es durch die dramatische Schrumpfung der Union, abgesehen von einer großen Koalition die niemand will, erstmals zwingend drei Parteien braucht, um eine mehrheitsfähige Regierung zu bilden. Denn die zuvor so naheliegende „österreichische“ Kombination aus Union und Grünen geht sich, wegen beider Absturz, nicht mehr aus.
Vielmehr erleben Deutschlands Wähler, was Österreichs Wähler durch Jahre erlebt haben: Sie haben auf die künftige Zusammensetzung ihrer Regierung keinen Einfluss mehr. Eine Koalition aus Union, Grünen und FDP mit Armin Laschet als Kanzler ist ebenso möglich wie eine Koalition aus SPD, Grünen und FDP mit Olaf Scholz als Kanzler, obwohl sie sich politisch beträchtlich unterscheiden. Eine Koalition aus SPD und Grünen und der „Linken“ ist rechnerisch nicht mehr möglich.
Wirtschaftspolitisch hätte diese Koalition meines Erachtens einen wesentlichen Fortschritt bedeutet, denn wenn die „Linke“ irgendwo Recht hat, dann bei der Ablehnung von „Lohnzurückhaltung“ und „Ausgabenbremse“, die das unverändert größte Risiko für den Zusammenhalt der EU darstellen. Baerbock sieht das zwar nicht so klar, aber Robert Habeck hat sehr wohl Zweifel an der deutschen Spar- und Lohnpolitik angemeldet. Hätten die Grünen eine Koalition links der Mitte tatsächlich angeführt, so wäre Olaf Scholz jedenfalls bereit gewesen, einen höheren Mindestlohn einzuführen und vielleicht sogar die Lohnzurückhaltung im Staatsdienst aufzugeben. Vielleicht hätte ein grüner Finanzminister dieser Regierung nicht einmal darauf bestanden, den derzeit ausgesetzten Austerity-Pakt zu verlängern. Diese große Chance für die EU hat Baerbock vertan.
Dennoch habe ich ein Problem damit, dass eine so massive Änderung der deutschen Politik nicht vom Wähler entschieden wurde. Denn wie in Österreich haben die deutschen Parteien diesmal nicht gesagt, welche Koalition sie anstreben – nur die Union hatte die „Linke“ ausgeschlossen. Grüne und SPD hatten, um ihre Verhandlungsbasis nicht zu schwächen, nur erklärt, deren außenpolitische Linie abzulehnen. Die Annahme dass der Wähler entscheidet, wer Deutschland regiert, ist jedenfalls wie in Österreich kühn, und ich sehe darin ein ernsthaftes Problem aller Länder: Da die großen Lager überall schrumpfen und die Parteienlandschaft überall immer zerklüfteter wird, könnte der mangelnde Einfluss auf die tatsächliche Regierung die Wähler irgendwann an der Demokratie zweifeln lassen.
Ein mehrheitsförderndes Wahlrecht wie in Frankreich scheint mir im Gegensatz zum extremen Modell Ungarns oder Großbritanniens doch energischen Nachdenkens wert, wenn Wahlmüdigkeit vermieden werden soll.
Ein Kommentar
Sondierungsgespräche Grüne/FDP – besser kann man Ihren Kommentar nicht untermauern.
Wähler wählt Grüne/FDP eher nicht, die beiden einigen sich auf einen Kanzler.
Demnächst erklärt uns dann irgendein Leitmedium, dass das alles den Wählerwillen wiederspiegelt.