Die EU könnte sich verschätzen

Die Briten haben einen vernünftigen Grund, den ausgehandelten Scheidungs-Vertrag nicht anzunehmen. Ein “harter” Brexit ist für sie nicht zwingend wirtschaftlicher Selbstmord.

Wenn man für bare Münze nimmt, was die Beteiligten sagen, ist der ungeordnete Brexit unausbleiblich. Die britischen Abgeordneten haben den von Theresa May und Michel Barnier ausgehandelten Scheidungsvertrag, Fraktions-übergreifend verworfen: Sie sind nicht bereit, eine “Backstop”-Klausel zu akzeptieren, die Großbritannien, um eine “harte Grenze” zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland zu vermeiden, bis auf weiteres den Regeln der EU unterwirft, sie aber davon ausschließt, auf diese Regeln Einfluss zu nehmen.

Wenn ich die EU verlassen wollte, akzeptierte ich diese Klausel auch nicht.

Folgerichtig fordert das Unterhaus von May, den “Backstopp” neu zu verhandeln.

Die EU weist das aus Gründen, die ich mindestens so gut verstehe, zurück: Schließlich hatten die Briten zwei Jahre Zeit, akzeptable Bedingungen auszuhandeln. Wenn alles so bleibt, ist der ungeordnete Brexit Realität – und die schlechteste Lösung für beide Teile.

In der EU glaubt man freilich unverändert, dass die Briten am Ende einlenken werden. Man ist dort nämlich überzeugt, dass der ungeordnete Austritt für sie ungleich mehr Nachteile als für die EU mit sich bringt. An dieser Überzeugung möchte ich rütteln.

Die EU will ein Exempel statuieren: einen Scheidungsvertrag durchsetzen, der nicht nur Großbritannien, sondern auch allen anderen Ländern beweist, dass es ein grober Fehler ist, die EU zu verlassen. Denn sie fürchtet, nicht zu Unrecht, dass sonst andere Mitglieder dem Beispiel Großbritanniens folgen könnten.

Die EU sollte in Betracht ziehen, dass ihr Beweis auch misslingen könnte.

Wäre sie die wirtschaftlich und politisch funktionierende Gemeinschaft, für die sie sich hält, so wäre Großbritannien trotz Nigel Farages Lügen eher nicht abgesprungen und nirgendwo sonst spielte man mit dem Absprung. Aber die aktuelle EU ist kein eindrucksvolles Erfolgsmodell: Ihr Sparpakt und Deutschlands merkantilistisches Lohndumping haben sie wirtschaftlich und damit auch politisch zu einem höchst fragilen Gebilde gemacht. Aus dieser EU auszutreten ist für die Briten kein Wahnsinnsakt. Vielmehr zeigt ihnen ihre wirtschaftliche Entwicklung, wie richtig es war, sich so weit wie möglich von der Wirtschaftspolitik der EU abzukoppeln: den Sparpakt zu verweigern und durch das Beibehalten des Pfundes, anders als Frankreich oder Italien, nicht hilflos zusehen zu müssen, wie ihnen Deutschland Marktanteile abjagt.

Aus der nebenstehenden Grafik lässt sich diese britische Erkenntnis mühelos nachvollziehen: Noch 2004 lag das “United Kingdom” in seiner Wirtschaftskraft, gemessen als reales BIP pro Kopf, weitgehend und 2008/09 so gut wie gleichauf mit Frankreich und Italien – in den folgenden Jahren zog es an beiden vorbei, um Frankreich 2017 (im letzten Jahr, für das exakte Zahlen vorliegen) um 1148 Dollar und Italien um 4533 Dollar pro Kopf zu übertreffen.

Die EU, so ließe sich schließen, müsste ihre Wirtschaftspolitik gewaltig ändern, wenn sie wirtschaftlich nicht nur für Deutschland vorteilhaft bleiben will.

Sie überschätzt sich daher meines Erachtens auch in den Scheidungsverhandlungen mit Großbritannien, indem sie überzeugt ist, dass es dabei so viel mehr als sie selbst zu verlieren hat: Großbritannien, genauer die “City of London”, verliert zwar vermutlich einen Teil des Geldes, das reiche Bürger oder Unternehmen der EU in dieser größten Steueroase der Welt anlegen, denn wenn Großbritannien nicht mehr der EU angehört, ist dieses Geld nicht mehr so leicht dorthin zu transferieren – aber ich bin ziemlich sicher, dass sich Umwege auftun werden. Voran die deutsche Autoindustrie könnte jedenfalls kaum weniger darunter leiden, den zollfreien Zugang zum britischen Kfz-Markt zu verlieren und ihn Japanern und Koreanern zu überlassen.

Die Risiken der ungeordneten Scheidung sind nicht so eindeutig verteilt, wie voran deutsche Medien, vom Spiegel bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung es darstellen.

Der harte Brexit ist auch nicht so sicher ökonomischer Selbstmord, wie sie behaupten. Denn obwohl er nun bereits seit 2016 im Raum steht und zunehmend als wahrscheinlich angenommen wird, haben sich Großbritanniens Wirtschaftsdaten nirgendwo verschlechtert: Das BIP ist auch 2018 um satte 3,2 Prozent (weit besser als das deutsche) gewachsen; Arbeitslosigkeit und öffentliche Verschuldung sind zurückgegangen; die Inflation ist mäßig geblieben; die Immobilienpreise, von denen man dachte , dass sie einbrechen würden, weil so viele Geldinstitute abwandern, sind leicht gestiegen.

Nicht dass ich die Probleme der abrupten Scheidung kleinreden wollte, aber man soll sie auch nicht großschreiben: Natürlich ist es auch möglich, den gegenseitigen Handel gemäß der Regeln der WTO statt der Zollunion abzuwickeln und natürlich kommt er mit dem Brexit nicht völlig zum Erliegen. Zudem gehört Britannien zu den Ländern, die schon jetzt mehr Handel mit Ländern außerhalb als innerhalb der EU betreiben, so dass es das Handelsvolumen, das es bei der EU verliert, durchaus im Handel mit dem Commonwealth, Asien und Nordamerika aufholen kann.

Die EU, voran Deutschland, exportiert jedenfalls mehr nach Britannien als dieses in die EU – sie muss also das größere Interesse haben, mehr dieses gegenseitigen Handels zu erhalten. Wenn sie den harten Breit nicht will wird sie sich also sehr wohl bewegen müssen. So sehr sie ein Exempel statuieren will, sollte sie vermeiden, dass daraus ein Bumerang wird: Dass sich herausstellt, dass Großbritannien leichter ohne EU auskommt, als die EU ohne Großbritannien.

10 Kommentare

  1. An den wirtschaftlichen Selbstmord glaube ich auch nicht so recht. Aber auch GB kann kein Interesse an einem neuerlichen Bürgerkrieg in N-Irland haben.

  2. Ein kluger Artikel.
    Ich habe einen ähnlichen “Verdacht”: Dass das UK aus dem Brexit nach spätestens 5 Jahren sehr viel besser aussteigen wird, als die EU.
    Die Vorgangsweise der EU-Oberen wird, nachdem sich der Brexit-Staub gelegt haben wird, noch zu großem Bedauern führen:
    Denn mit dem Brexit verliert die EU ihren Sitz am Tisch des anglo-amerikanischen Kulturkreises.
    Und der anglo-amerikanische Kulturkreis ist im Westen immer noch der bestimmende.

    Wenn man sich ansieht, wie die EU-Oberen bei der Erdogan-Türkei nach wie vor sämtliche Augen und Ohren verschließen und gleichzeitig beim UK kompromisslos auf “EU-Prinzipien” pochten, kann man nur das Haupt verhüllen….

    Die Engländer sind ein Volk, das in den letzten Jahrhunderten jeden Krieg gewonnen hat, allen voran die beiden Weltkriege: Ein Volk von außergewöhnlicher Widerstandskraft.
    Es ist nicht zu erwarten, dass es jetzt beim Brexit anders sein wird……

  3. Einer der klügsten Artikel zu diesem Thema. Sollte auch in einem Printmedium, zB im Standard unter „ Kommentar der Anderen“ veröffentlicht werden!

      1. Der Standard ist absolut notwendig gegen die Verdummung des Boulevards von Österreich, Heute und Krone. Er mag Ihnen zu links sein, das ist eine Standortfrage und keine Qualitätsfrage, geprägt von dem Standort wo man sich selbst politisch einordnet. Demokratiepolitisch halte ich diese Zeitung für sehr wichtig.

  4. Ich bin auch der Meinung, dass ein “harter Brexit” Großbritannien kommen und nicht so dramatisch schaden wird, wie es viele “Experten” prophezeien.
    Ich vermute eher, dass die EU aufgrund anderer Probleme bald in extreme Schwierigkeiten kommen wird. Ökonomische Fragen betreffen zwar alle Menschen direkt, dennoch bestimmen sie nicht wirklich Gefühle und Gedanken der meisten Bürger.

    Der Knackpunkt ist die Migrations-, Flüchtlings- und Asylfrage. Da triftet Europa immer weiter auseinander. Wenn es überall “Volksabstimmungen” dazu gäbe, hätten wir x-fach EU-Exits schon nach kurzer Zeit. Ich wollte in diesen Tagen die Österreicher (ich spare mir das Innen) nicht über einen EU-Verbleib votieren lassen …

  5. Der Austritt von GB wird sicher in einigen EU Ländern zu mehr oder weniger ökonomischen Problemen führen, doch für GB wird der langfristige Schaden deutlich höher sein.
    GB wird im Bildungs- und Wissenschaftsbereich viele Experten verlieren. GB wird an Attraktivität bei Wissenschaftler einbüßen und dies kann GB nicht durch “Eigenbau” wettmachen. GB wird auch viele ausländische Facharbeiter verlieren und dies wird zwangsweise zu einer Verschlechterung der Ökonomie führen.
    Die Oberschicht wird es überleben, die Mittelschicht wird es schwer treffen und der Unterschicht kann es egal sein, sind sie doch bereits jetzt – mit EU – sozial benachteiligt.
    Die “Tommis” verstehen unter Freiheit leider oft die Beherrschung der Anderen.

    1. GB wird (auch) im Bildungsbereich verlieren – ja, das stimmt. Aber da ist GB nicht alleine. Auch in Österreich, besonders in Wien, leidet das Bildungswesen in den Schulen aufgrund massiver Zuwanderung seit vielen Jahren.
      Nur haben die Briten mehrheitlich über den Brexit abgestimmt. Bei uns wurde niemand gefragt …

  6. Ich habe nie verstanden, weshalb es ein größeres Problem sein sollte, wenn künftig eine EU-Außengrenze zwischen Irland und Nordirland verläuft, als zwischen Schweden und Norwegen oder zwischen Albanien und Griechenland. Können Sie mir das erklären?

    1. Immerhin herrschte in Nordirland Jahrzehnte Bürgerkrieg. Mit einer Aussengrenze werden sich (etliche) Katholiken in Nordirland wieder der herrschenden Schicht aus Protestanten und britischen Sicherheitskräften ausgeliefert fühlen. Damit besteht die Gefahr neuer Unruhen und Terroranschläge. Der freie und ungehinderte Verkehr in die Republik Irland diente als Ventil und ökonomischer Antrieb.

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