Mit dem sicheren Brexit verliert die EU die wichtigste Ablenkung von eigenem Versagen. Es sei denn, Großbritannien erleidet tatsächlich massiven wirtschaftlichen Schaden.
Der Coup Boris Johnsons ist perfekt gelungen: Er hat locker die absolute Mehrheit geschafft, und im Jänner verlassen die Briten die EU zu seinen Bedingungen.
Die Wahl war bereits im November entschieden, als der Anhänger eines ungeregelten Brexit, Nigel Farage, entschied, dass seine UKIP doch nicht gegen Johnsons Tories, sondern an ihrer Seite antreten würde, um ein Labour-Mandat zu verhindern. Gleichzeitig ist ein vergleichbares Wahlbündnis zwischen schottischen, irischen und liberalen Brexit-Gegnern und Brexit-Gegnern bei Labour unterblieben, weil deren altlinker Chef Jeremy Corbin die EU so wenig wie Johnson schätzt. Zugleich waren Corbins persönliche Beliebtheitswerte stets miserabel. Zusammen machte das Johnson so stark wie nie.
Gestärkt durch diese Wahl sind freilich auch Schottlands Nationalisten und fordern bereits eine Abstimmung zur Unabhängigkeit ihres Landes. Sie brauchen dazu zwar die Zustimmung Londons, und Johnson hat sie bereits verweigert. Aber das kann „katalanische“ Unruhen heraufbeschwören, die letztlich dazu führen könnten, dass Großbritannien zu Kleinbritannien schrumpft.
Was macht der Brexit mit der EU?
Die EU ist mit dem Brexit definitiv um ihre zweitstärkste Volkswirtschaft ärmer. Dass sie mit ihr auch die stärkste Armee verliert, scheint mir nicht so erheblich: Die EU ist weit von einer gemeinsamen Armee entfernt, und Großbritannien hätte die seine dort sowieso nie eingegliedert.
Was die EU durch den Brexit vor allem verliert, ist die Möglichkeit, von ihren eigenen Problemen abzulenken. Denn voran die Überzeugung von den katastrophalen Folgen des Brexit für die britische Wirtschaft sorgte für den überraschenden Zuwachs an Zustimmung, den die EU in den letzten Jahren in allen Mitgliedsstaaten erfahren hat.
Jetzt aber rücken die eigenen Probleme wieder in den Vordergrund:
- Die zweitgrößte Volkswirtschaft, Frankreich, kämpft mit dramatischen Streiks, weil ihr Präsident, Emanuel Macron massiv an Zustimmung in der Bevölkerung verloren hat: Sie ist von 57 auf 27 Prozent zurückgegangen und entsprechend größer ist die Zustimmung zu Marine Le Pen geworden. Macron kann das zentrale Problem des Landes – die gewaltigen Marktanteilsverluste an deutsche Unternehmen, die französische Preise dank „Lohnzurückhaltung“ durch 19 Jahre unterbieten konnten – unmöglich lösen, und das schlägt auch auf seine Versuche durch, das Pensionssystem zu reformieren. Pensionen machen in Frankreich einen relativ hohen Anteil des BIP aus und natürlich zögen Unternehmen einen höheren Anteil ihrer Gewinne am BIP entschieden vor. Bei der Bevölkerung ist es exakt umgekehrt. Dass der Straßen-Protest der Gelbwesten Macron zum Einlenken bewogen hat, lässt die Gewerkschaften hoffen, dass ihre Straßen-Proteste bei den Pensionen ähnliche erfolgreich sind.
- Wahrscheinlich erhöhten höhere Unternehmensgewinne Frankreichs Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland – aber ebenso wahrscheinlich gefährdeten niedrigere Pensionen Frankreichs Binnen-Konjunktur. Die Probleme, die Deutschlands Lohn-Dumping für die EU mit sich gebracht haben, sind unverändert ungelöste.
- Das gilt in noch größerem Ausmaß für Italien, das seine Löhne sogar stärker erhöht hat, als der Produktivitätszuwachs es zugelassen hätte und das daher noch mehr Marktanteile an Deutschland verloren hat. Ich sehe unverändert nicht, wie es seine wirtschaftlichen Probleme innerhalb des Euro lösen soll, auch wenn die EU weiterhin beide Augen zudrückt, wenn es den „blödsinnigen Spar-Pakt“ (der deutsche Wirtschaftsweise Peter Bofinger) weiterhin missachtet.
- Auch das Problem, das der Spar-Pakt für die EU mit sich gebracht hat und sie soviel langsamer als die USA wächst und ihre Arbeitslosigkeit abbauen lässt, ist weiter ungelöst.
Leidet Britanniens Wirtschaft?
Um weiter wenigstens einigermaßen von diesen eigenen Problemen abzulenken, hofft man in den meisten EU- Medien klammheimlich, dass sich der Brexit tatsächlich als fatal für Britanniens Wirtschaft erweist.
Unter Deutschlands Lohn-Dumping hat sie in der Vergangenheit keine Märkte verloren, denn sie behielt das Pfund und konnte es abwerten. Insofern vermochte das United Kingdom (UK) Frankreich und Italien in den letzten Jahren an Wirtschaftsstärke (BIP pro Kopf) klar zu überholen. In Zukunft könnte ihm zwar theoretisch der EU-Markt fehlen – praktisch wird es mit der EU aber schnellstens ein Handelsabkommen schließen, das die Zoll- Barrieren zwischen den beiden Wirtschaftsräumen sicher nicht erhöhen wird: voran Deutschlands Autoindustrie wird darauf den größten Wert legen. Ich kann also nicht sehen, warum der Handel des UK Schaden nehmen sollte. Genau so wenig wird sein größtes Unternehmen, Shell, oder sein größter Devisenbringer, der Tourismus, leiden.
Gleichzeitig wird es nicht mehr dem Regulierungswahn der EU unterliegen, der, darin bin ich neoliberal, die Wirtschaft bürokratisch behindert.
Die wichtigste Industrie Großbritanniens, die Geld-Industrie (Banken, Versicherungen) hat zwar dem nahenden Brexit erstaunlich erfolgreich getrotzt, sollte aber in Zukunft stark darunter leiden, dass EU-Kapital nicht mehr frei in die City of London transferiert werden kann und EU- Transaktionen kaum mehr dort abgewickelt werden. Wie weit der erfolgte Ausbau von Filialen in der EU das zu lindern vermag, wird sich zeigen. Genau so wie sich zeigen wird, was das UK durch künftige Abkommen mit anderen Wirtschaftszonen -wie den USA, Canada oder Asien – hinzugewinnt.
Ich halte den Ausgang dieses Matches für offen.
6 Kommentare
GB steht momentan ganz gut da und hat eine sehr niedrige Arbeitslosigkeit. Ich glaube, dass der Brexit für das UK weit nicht so negativ ausfallen wird, wie in unseren Medien orakelt wird. GB ist nun flexibler in vielen Dingen und wird nicht von der riesigen EU Bürokratie und den EU Gerichten behindert. Die EU bringt wenig auf die Reihe: Migrationsfrage weiterhin ungelöst, Merkel und Macron unter Druck und ausgelaugt, Trump verhängt Sanktionen gegen Nordstream 2 und erhebt 100% Zölle für Importe von französischen Exportwaren. Die EU hat darauf null Antwort. Da ist eine Riesenbaustelle. Und dann noch das von Lingens immer wieder zitierte Euro Problem. Oh weh!
Umgekehrt wird ein Schuh daraus!
Keine Überraschung, dass es Ländern wie Frankreich und Italien (von Griechenland schreibe ich jetzt gar nicht – das ist ein eigenen Kapitel) so schlecht geht wenn sie ihre Länder mit einem aufgeblähtem Verwaltungsapparat, wirtschaftlichen Protektionismus, (hoher Staatsanteil in der Industrie) absurden Arbeitsmarktgesetzen (Kündigungsschutz) und Pensionssystemen in denen privilegierte Gruppen die Pensionskassen auf Kosten des Steuerzahlers ausbeuten (besonders extrem Balletttänzer die mit 42 penisonsberechtigt sind) belasten und schädigen. (In Frankreich kommt noch Großmannsucht dazu die das Land vermeintlich dazu zwingen einen Status als „Supermacht“ beizuhalten oder anzustreben obwohl es finanziell dazu eigentlich gar nicht in der Lage ist.) Diese daraus resultierenden, höheren Kosten machen wiederum höhere Steuern notwendig und veranlassen in Folge Unternehmen und gut-verdienende Privatpersonen das Land zu verlassen. Dramatische Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind das Ergebnis und verursachen, auch wegen dem rigiden Kündigungsschutz in den beiden Ländern, eine extrem hohe Arbeitslosigkeit (Jugendarbeitslosigkeit über 25%) So ein, durch weit zurückliegende Fehler der Politik gefesseltes Land, hat logischerweise eingeschränkte Chancen gegen ALLE anderen Länder und nicht nur Deutschland. Dass Deutschland, welches neben einer überragenden Produktivität und vernünftigen Löhnen auch noch die innovativeren und begehrenswerteren Produkte hat, aus diesem Vergleich als Sieger hervorgeht, versteht sich von selbst.
Für Italien gilt, was sie verschweigen, dass die Produktivität absolut, nicht nur im Verhältnis zum Lohnniveau, gesunken ist. DAS können sie nicht Deutschland anlasten.
Ich stehe nicht an einzuräumen, dass Herr Lingens mit seiner Deutschland-Kritik in einigen Dingen recht hat. Ich bin, als ehemaliger Merkel-Freund zu einem ihrer Gegner geworden – viel zu viel hat sie versäumt oder liegen gelassen – ausgesessen!. Man sollte sich wirklich überlegen die Amtszeit von Kandidaten auf 2 Perioden zu beschränken – schon Kohl war zu lange am Ruder und dafür verantwortlich, dass die anstehende Wahl verloren ging. Ich glaube aber trotzdem nicht, dass Deutschland mehr wie Frankreich oder Italien werden sollte. Beide Länder müssen wettbewerbsfähiger werden und das geht nun mal nicht, wenn Teile der Bevölkerung meinen, sie können sich ihre Privilegien erstreiken und damit die gerade in Frankreich so hoch gehalten „Gleichheit“ zu ignorieren. Die beiden Länder müssen ihre Reform-Hausaufgaben machen. Sollte Macron scheitern, dann sieht es ohnehin düster aus für die ganze EU.
Sehr geehrter Herr Lingens, Sie schreiben, dass Boris Johnson „locker die absolute Mehrheit geschafft“ hat. Hat er das wirklich? Er hat locker mit 14M Stimmen (von 45M Wahlberechtigten) die absolute Mehrheit im Parlament. In einem Land mt einem bedingungslosen „The Winner takes it all“-Wahlsystem. Hab mir die Zahlen mal ein bissl näher angesehen und letzte Woche zu viel Zeit gehabt. Wen es interessiert: https://www.facebook.com/euro.leo.7/posts/10218197004489934
Sie haben ja im Prinzip recht – ich würde mir nur in Österreich auch so ein Mehrheits-Wahlsystem wünschen. Die ÖVP (und früher die SPÖ) hätte dann eine Regierungsmehrheit und hätte schon vor 2 Jahren nicht mit der FPÖ koalieren müssen (wieviel uns da erspart worden wäre wissen sie). Sie müsste jetzt nicht mit der Grünen Partei, deren Wahlprogramme denen der ÖVP ziemlich konträr gegenüber stehen, Koalitions-Verhandlungen führen. Die gegenseitige Blockade der ehemaligen Koalitions-Partner SPÖ und ÖVP ist ihnen ja auch noch in Erinnerung. Daher Mehrheits-Wahlrecht in Österreich – sofort!
Ich sehe – mittelfristig – (auch) schwarz für die EU und seine EU-Bürokraten.
Jetzt zu „unseren“ Medien: Wie haben diese B. Johnson (wie auch Trump) lächerlich gemacht – und machen es tlw. weiterhin. Ok, Johnson nimmt man mittlerweile ernst. Man hat „uns“ erzählen wollen, dass bei einer zweiten Abstimmung die UK-Mehrheit gegen einen Brexit stimmen würde, nur wie „wir“ das für besser finden würden. Ich traue mich einen hohen Betrag wetten, dass die Amis ihren Trump wieder wählen werden. (Anmerkung: Auch ich mag ihn nicht!)
Und jetzt zur EU: Man mag sich über Johnson und Trump auskotzen. Aber schauen wir zu „unseren“ führenden Köpfen: Ursula von der Leyen, Angela Merkel (bzw. ihre Nachfolgerin), Emanuel Macron, … Ich schätze einmal, dass D. Trump, B. Johnson, W. Putin, Xi Jinping beliebter sind in ihren Ländern als „unsere“ großen EU-LenkerInnen. Auch wenn „wir“ das nicht glauben wollen oder gar auszusprechen trauen.
Nachsatz: Auch wird uns glauben gemacht, dass „Greta“ – selbst in Europa – über eine mehrheitliche Anhängerschaft verfügt …
Ich gebe Herrn Lingens und jenen Kritikern Deutschlands, mit denen er auf der gleichen Linie liegt, durchaus Recht, wenn er die ökonomischen Schwierigkeiten Frankreichs, Italiens und vorher Griechenlands in der Lohnzurückhaltung der Deutschen sieht. Gewerkschaften haben in Jahrzehnten für wachsende Löhne gesorgt und sind begreiflicherweise nicht bereit, den hart erkämpften sozialen Fortschritt dem Diktat Deutschlands zu opfern. Aber ging es Deutschland um eine Übervorteilung seiner Nachbarn? Nein, es ging darum, die eigene Stellung als globale Exportmacht gegenüber den Billiganbietern zu sichern – und so gesehen hatte Schröder mit seiner Agenda 2010 damals das Richtige getan – er hat den „kranken Mann“ Deutschland aus der Misere befreit. Das nehmen ihm seine Kritiker bis heute übel. Mit Recht, wie ich meine, solange man den Blick nur auf Europa richtet; zu Unrecht, wenn es um die Stellung Deutschlands als globale Exportmacht geht.