Der entblätterte heilige Sebastian

Fünf sehr verschiedene Gründe für den Verfall der Strahlkraft des Kanzlers. Der Verlust der Glaubwürdigkeit und der Anschein eines Heuchlers wiegen am schwersten.

Talmi sieht aus wie Gold, hat aber den Nachteil, mit der Zeit abzublättern, bis darunter die billige Zink-Kupfer-Legierung sichtbar wird. Soweit ist es mit Sebastian Kurz noch nicht, aber wo die Staatsanwaltschaft zu putzen begann, wurde zunehmend Zinkblech sichtbar. Würde heute gewählt, so läge Türkis-Grün gemäß einer Market-Umfrage des Standard mit 36 +12 Prozent nur mehr gleichauf mit Rot-Grün-Pink (26+12+10), das aber, wie OGM für den Kurier erfragte, erstmals die beliebtere Koalition darstellte. Direkt zum Kanzler gewählt würde Kurz statt im März 2020 von 52 heute nur mehr von 29 Prozent.

Der Verfall seiner Strahlkraft hat verschiedenste Gründe. So ist etwa die Schließung der Balkan-Route schon lange her- die Zahlungen der EU an die Türkei, die stets die weit größere Bedeutung hatten, halten den Flüchtlingsstrom seither in akzeptablen Grenzen. Kurz´ abweisende Asylpolitik zieht zwar noch immer, doch auch keine andere Partei heißt Wirtschaftsflüchtlinge willkommen, schiebt aber keine hier geborenen Kinder ab.

Gleichzeitig hat das aktuelle Milliardendefizit Kurz` „Nulldefizit“ als Gesprächsthema abgelöst. Er behauptet zwar, dass wir dank der vergangenen türkisen Budgetdisziplin so gut durch die aktuelle Krise kämen, aber die Zahlen strafen ihn Lügen: Österreichs BIP erlitt den höchsten Einbruch der EU und erholt sich am langsamsten.

Daher müssten sich zumindest Kurz` sonstige Versprechen bewähren: Dass es mit ihm keine Packelei gäbe, dass er niemanden anpatze und dass seine Koalition nicht streite. Letzteres gelang ihm am relativ längsten: Die Grünen stellen Kurz noch immer keine unerfüllbare Forderung- er muss sich nur immer härter mit ihnen auseinandersetzen. Auch mit H.C. Strache, so weiß man heute aus dessen Handy, musste er sich hart auseinandersetzen- nur dass das nie an die Öffentlichkeit drang. In Wirklichkeit ehrt es Kurz, dass ihm FP-„Einzelfälle“ nicht gleichgültig waren – es desavouiert die Österreicher, dass sie „Auseinandersetzung“ stets als dringend zu vermeidenden „Streit“ diffamieren. Leider befördern die Medien diese fehlende Streitkultur: Journalisten überbieten einander darin, „aufzudecken“, wo es „schon wieder“ unterschiedliche Ansichten innerhalb einer Partei oder einer Koalition gibt. In der Sache überaus fähige rot-schwarze Koalitionen wurden auf diese Weise voran im ORF in bester Absicht kaputt geredet. (Nur die Wiener Zeitung hat kraft Gesetzes unaufgeregt Argumentation gegen Argumentation gestellt- das hat aber leider bald ein Ende.)

Die türkis-blaue Koalition war alles eher als fähig, aber sie bot auf Grund fehlenden „Streits“ keine vergleichbaren Angriffsflächen. Dort, wo sie gelegen wären- in der neoliberalen Wirtschaftspolitik- fehlte den meisten Journalisten das ökonomische Wissen, sich damit auseinanderzusetzen. Gott sei Dank nahmen sich Kurier oder Standard immerhin energisch der „Einzelfälle“ an, sonst wäre es Kurz gelungen, Türkis-Blau tatsächlich als Traum-Regierung im allgemeinen Bewusstsein zu etablieren. Und ohne „Ibiza“ hätten wir sie bis heute: Die in ihrer Gesinnung korrupteste, Rechtsaußen-Regierung der 2. Republik wurde nicht dank demokratischer Erkenntnis, sondern dank eines glücklichen Zufalls beendet.

Spätestens als er Justizministerin Alma Zadic eine Teilschuld am Terroranschlag in Wien anlastete, fand das Märchen ein Ende, dass Kurz niemanden „anpatzt“. Nicht erst der Untersuchungsbericht stellte klar, dass das Versagen ausschließlich beim BVT, also allenfalls beim Innenminister lag. Dass er Bürgermeister Michael Ludwig die häufigen Wiener Corona- Infektionen zu Last zu legen suchte, obwohl sie in Tirol zu diesem Zeitpunkt weit häufiger waren, war ähnlich durchsichtig. Selbst Kurz` Versuch, die EU anzupatzen, indem er ihr anzulasten suchte, dass Österreich aus Sparsamkeit zu wenig Pfizer-Impfstoff erwarb, dürfte bei intelligenteren Bürgern misslungen sein.

Restlos geplatzt ist das Märchen vom neuen Stil freilich erst mit den Chats zwischen Kurz, Gernot Blümel, und Thomas Schmid: Massiver „gepackelt“ wurde bei einer Postenvergabe wohl noch nie. Und erstmals hat sich Kurz damit ein nachhaltiges Problem eingehandelt: Er ist nicht mehr glaubwürdig- der Abstand zwischen dem, was er öffentlich sagt und dem, was er insgeheim tut, war noch bei keinem Kanzler größer.

So ließ sich Kurz bekanntlich im Juni 2019 in der Wiener Stadthalle von einem evangelikalen Prediger vor tausenden Zuhörern als idealen Kanzler feiern und segnen – jetzt feierte er seinen Generalsekretär im Finanzministerium Thomas Schmied per Handy dafür, dass er der Kirche den Verlust ihrer finanziellen Privilegien androhte, nachdem die Bischofskonferenz die türkise Asylpolitik heftig kritisiert hatte: „Super Danke vielmals!!“

Schmids Drohungen, die er Kurz präzise referierte, erinnerte erstaunlich an Straches Ibiza-Vorhaben, dem Bauunternehmer Hans Peter Haselsteiner alle Staatsaufträge zu entziehen. Denn so wie Haselsteiner Staatsaufträge vom Gesetzes wegen zustünden, wenn er Bestbieter wäre, war auch das Gros der angeführten „Privilegien“ der katholischen Kirche (und anderen Religionsgemeinschaften) gesetzlich gedeckt und auch sofern das bloßem Ermessen entsprach, wäre es gesetzwidrig, wenn dieses Ermessen von der Haltung der Bischöfe zur Asylpolitik abhinge. Kurz Haltung zur Religion heuchlerisch zu nennen, scheint mir daher nicht rasend riskant, solange die Justiz noch unabhängig ist.

3 Kommentare

  1. Ich hatte eigentlich nie geglaubt, dass sich PML der linken Jagdgesellschaft anschließen wird. Nun ja, so kann man sich täuschen.
    Nur eines noch: Angesichts dieser Allianz linker Kräfte verstehe ich direkt die Einführung der message control – die wehren sich halt.

  2. Was heiß hier Verlust der Strahlkraft?
    Er hat nie eine gehabt. Das haben ihm seine 50 Berater und die Mei Poch angedichtet. Er war von Anfang an ein gefinkelter Rattenfänger der es gut verstand, sein Unwissen durch populäre Aktionen zu verbergen. Die Eigenschaft der Egomanen ist bei ihm ja stark ausgeprägt. Selbstherrlich, forsches Auftreten und ständig andere belehren. Aber jetzt hat er es sich mit vielen seiner bisherigen politischen Freunde verscherzt! Er kritisiert die EU, widerspricht der Merkel und suchte sich undurchsichtige Verbündete im Osten. Fliegt mit Privatjets von dubiosen Oligarchen und kümmert sich kaum viele tausende, gefährdete Arbeitsplätze von österr. Firmen. Wo war er bei Swarovsky, bei MAN u.a.? Die dt. Lufthansa dagegen erhält zig-Millionen an Unterstützungen. Herr Kurz, „der Lack ist ab“ weiterfahren mit dem Geilomobil ist angesagt. Und seine Nachfolger erben diese ganzen wirtschaftlichen Fehler eines glücklosen Egomanen.

  3. Jeder Mord an einer Frau durch einen „Ausländer“ stärkt die Rechten – gleichgültig ob ÖVP oder FPÖ.

    Wenn Asylverfahren über viele Jahre verschleppt – und letztendlich negativ beschieden werden -, kann es schon vorkommen, dass Kinder, die da geboren werden, auch mit-abgeschoben gehören.

    Gleich nach den Mega-Skandalen der ÖVP kommen für mich gleich die Ansichten von Frau Irmgard Griss zum Thema Abschiebungen von Kindern. Demnach sollen Nachbarn, Lehrer, Friseure, … (mit)entscheiden können, wie „integriert“ ausländische Kinder sind. Und sowas kommt von einer (ehemaligen) Richterin. Subjektiver geht’s gar nicht, und man wird immer welche finden (oder noch auftreiben versuchen), die das bestätigen können. Dass Verfahren dadurch noch länger dauern werden, ist vorherzusehen. Gleichzeitig beschwert man sich jetzt schon über zu lange Verfahrensdauern. Herr Lingens, lesen Sie bitte die vielen Postings dazu im Standard zu diesem Thema. Ich vertrete da sicher keine rechts-rechte Einzelmeinung.

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