Statt Kurz das Misstrauen auszusprechen, sollte man die Zeit nutzen, sich besser vor Rechtsextremen in wichtigen Ämtern zu schützen.
Ich bin bekanntlich kein Fan von Sebastian Kurz. Seine neoliberale Wirtschaftspolitik wird uns Wohlstand und soziale Sicherheit kosten und seine Bereitschaft mit einer rechtsextremen FPÖ zu koalieren hat uns bereits viel internationales Ansehen gekostet. Beides hat energische Opposition herausgefordert. Aber ihm in dem Augenblick das Misstrauen auszusprechen, in dem er sich nach Ibiza-Gate endlich von dieser FPÖ getrennt hat, entbehrt für mich der Logik – es wäre ihm auszusprechen gewesen, wenn er sich nicht von ihr getrennt hätte.
Auch wer Kurz` Politik ablehnt, muss für Österreich froh sein, dass er endlich begriffen hat, dass man mit Keller-Nazis nicht regieren kann. Er wird es – so sehr die SPÖ im Wahlkampf davor warnen wird – auch kein zweites Mal versuchen. Denn die Kellernazis beherrschen die FPÖ unverändert; Kickl bleibt blaues Mastermind; und was Strache & Gudenus in Ibiza über Kurz´ Privatleben gerülpst haben, wird er auch nicht so schnell vergessen.
Es braucht einen unabhängigen ORF -Stiftungsrat
Dennoch muss Österreich die so erhaltene Atempause dringend nutzen, sich besser vor Rechtsextremen in hohen Ämtern zu schützen. Voran ist jene Verfassungsbestimmung zu streichen oder anders zu fassen, die es einem Bundespräsidenten Norbert Hofer um ein Haar erlaubt hätte, Regierungen nach seinem Gutdünken zu entlassen. Alexander Van der Bellen hat bereits vorgeschlagen, auf diese Befugnis zu verzichten – eine Zweidrittelmehrheit sollte rasch entsprechend handeln.
Vordringlich ist auch ein neuer ORF- Stiftungsrat. Es muss eine Mehrheit von Räten geben, die in minimierter Abhängigkeit von der Regierung bestellt werden. Etwa von der Richtervereinigung, vom Presseclub Concordia, oder der Intendanz von Burg und Oper – und natürlich voran der Redaktion des ORF. Um zu verhindern, dass jede auf Grund der Inflation nötige Erhöhung der ORF-Gebühren ebenfalls parteipolitischen Einfluss ermöglicht, ist verfassungsgesetzlich festzulegen, dass sie automatisch mit dem Arbeitskostenindex steigen. Wenn ÖVP, SPÖ, NEOS und Grüne sich in ihrem Medienverständnis wirklich von Strache & Co unterscheiden, einigen sie sich darauf.
Es braucht einvernehmliche Verfassungsrichter
Die wohl heikelste Veränderung, die Österreich durch die Regierungsbeteiligung der FPÖ erfahren hat, war die Bestellung zweier Verfassungsrichter, von denen ich bezweifle, dass sie diese Kür unter anderen politischen Bedingungen geschafft hätten. Ich meine daher, dass man das Ausmaß, in dem die Regierung Verfassungsrichter vorschlagen kann, überdenken muss: Derzeit werden gleich 9 von 14 Richtern von ÖVP und FPÖ gestellt. Es scheint mir notwendig, solche Übergewichte zu verhindern und zu fordern, dass Verfassungsrichter die Zustimmung der Mehrheit der im Parlament vertretenen Parteien genießen. Ich werde das Rechtsverständnis der ÖVP daran messen. Das Rechtsverständnis aller Parteien wird man daran messen können, ob sie dem Rechnungshof demnächst die Kompetenz zur ernsthaften Überprüfung der Parteifinanzen übertragen.
Nach den Wahlen beginnt das alte Problem
Das größte Problem des Landes ergibt sich nach der Wahl. Es gibt keinen Zweifel, dass die ÖVP sie klar gewinnen wird: mehr Wähler schreiben Kurz gut, dass er sich von der FPÖ getrennt hat, als ihm verübeln, dass er mit ihr koaliert hat. (Zumal niemand überzeugt ist, dass die SPÖ nie mit ihr koalieren wollte.) Kurz` Anti-Immigrations-Kurs überzeugt FP-Sympathisanten; und die meisten Österreicher glauben, dass sie den aktuellen Aufschwung Hartwig Löger verdanken, obwohl er der Wirtschaftspolitik der rot-schwarzen Vorgänger-Regierung zu danken ist und „Null-Defizite“ ihn bremsen werden. Kurz wird also ähnlich gut wie vergangenen Sonntag abschneiden. Gleichzeitig wird er keine absolute Mehrheit erreichen und sie wird auch kaum reichen, um mit NEOS und Grünen zu regieren. Eine von der FPÖ geduldete VP-Minderheitsregierung lehrte, dass Kurz unbelehrbar ist. Wenn in der ÖVP jetzt doch „staatsmännisches Denken“ dominiert, wird es daher wohl oder übel einmal mehr zur rot-schwarzen Koalition unter diesmal schwarzer Führung kommen. Gleichzeitig besteht freilich kein Zweifel, dass gemeinsames Regieren von Parteien mit sehr verschiedenen Wirtschaftsprogrammen suboptimal funktioniert: Das SP-Programm wendet sich gegen staatliches Sparen und sieht höhere vermögensbezogene Steuern vor – das VP-Programm lehnt diese kategorisch ab und begeistert sich für Nulldefizite. Das ist unvereinbar.
Es brauchte ein mehrheitsförderndes Wahlrecht
Eine dauerhafte Lösung für dieses Problem böte nur der Übergang zu einem Mehrheitsfördernden Wahlrecht, wie es mir am besten in Frankreich verwirklicht scheint. Es hat Marine Le Pen bisher in Schach gehalten, lässt kleine Parteien leben und gibt der relativ größten dennoch die Möglichkeit ihre Politik durchzusetzen. Ich bin seit Jahrzehnten Mitglied eines winzigen, parteiübergreifenden Arbeitskreises, der sich für ein solches Mehrheitsförderndes Wahlrecht einsetzt und ganz kurz gab es bei SPÖ wie ÖVP die Bereitschaft, darüber nachzudenken und sogar die Zweidrittel -Mehrheit, dergleichen zu beschließen. Aber man hat diese Chance verpasst und so muss man im September einmal mehr mit der suboptimalen aktuellen Konstellation vorlieb nehmen.
Es sei denn, die SPÖ hat das Format, eine ÖVP-Minderheitsregierung zu dulden. Die verfolgte – vorerst von der Konjunktur begünstigt – zweifellos weiter ihre in meinen Augen falsche, neoliberale Wirtschaftspolitik. Mit der fairen Chance sich zu bewähren oder wegen Misserfolges aus dem Amt gejagt zu werden. Gemäß Karl Popper, zu dessen Freunden ich mich zählen durfte, ist das der zentrale Sinn von Wahlen.
8 Kommentare
Eigentlich schätze ich die kritischen, klugen Kommentare v.Hr.Lingens. Aber dieser Kommentar hat etwas zynisches, aussichtsloses….
„Aber ihm in dem Augenblick das Misstrauen auszusprechen, in dem er sich nach Ibiza-Gate endlich von dieser FPÖ getrennt hat, entbehrt für mich der Logik“: Die Logik liegt darin, dass Kurz an jenem Samstag nach Bekanntwerden des Videos, dem Tag, an dem Strache von allen Ämtern zurücktrat, bis zum Abend versucht hat, die Koalition aufrechtzuerhalten – unter der Bedingung, dass Kickl das Innenministerium räumt. Dann hätte er mit der FPÖ weiterregiert.
Damit war Ihr Satz „es wäre ihm auszusprechen gewesen, wenn er sich nicht von ihr getrennt hätte“ vollinhaltlich erfüllt, denn er wollte sich ja tatsächlich nicht von ihr trennen.
Deswegen konnte man Kurz ab diesem Tag nicht mehr trauen (als hätte man ihm je trauen können).
Indem Kurz den Rücktritt von KIckl verlangte, war ihm klar, dass die FPÖ- Minister zurücktreten würden, denn sie haben es erstens laut genug gesagt und zweitens war und ist Kickl der Mastermind der FPÖ. Dass Kurz Kickl gekündigt hat, war also nichts anderes als die Aufkündigung der Koalition von seiner Seite. So sehr ich seiner Wirtschaftspolitik misstraue, so wenig kann ich daher in dieser seiner Vorgangsweise einen Anlass sehen, ihm mein Misstrauen auszusprechen.
Mir gruselt, wenn ich mir vorstelle, wie die jüngste Vergangenheit verlaufen wäre, wenn Hofer Bundespräsident geworden wäre. Prost van der Bellen !
Warum wurden die Rechten (überall) so stark oder zumindest stärker? Das sollten sich die Linken fragen!
Für die Linken ist – zurecht! – Demokratie ein fixer Bestandteil ihrer Ideologie. Aber wenn man gegen die Mehrheit agiert, wird man zurecht(!) – demokratisch – bei Wahlen abgestraft.
Ich bleibe dabei: 2015 war das „Wendejahr“ – zumindest in Europa.
Auch Sebastian Kurz hat von sich behauptet, er habe die Wirtschaft angekurbelt und die Arbeitslosigkeit gesenkt. Diese und viele andere seiner Aussagen erscheinen mir äußerst unehrlich. Deshalb befürchte ich, dass Herr Kurz noch grossen Schaden anrichten wird.
Und warum mauschelt der SPÖ Drozda mit dem Kickl?
Das ist rote Heuchelei!
Ich möchte gerne eine Wette mit ihnen abschließen. Türkis Blau die 2.
Wenn die F auf das Innenministerium verzichtet hätte, wäre die Koalition wohl nicht vorbei gewesen. Oder weshalb sonst hat Kurz so lang gebraucht (zumindest 24 Stunden – wenn’s wahr ist, dass er vorab informiert wurde sogar 48)