Österreich ist anders – ist es das?

Politiker wie Bürger haben hierzulande besonders wenig aus der Vergangenheit gelernt. Beider Medium war und ist die Kronenzeitung.

Der Bundespräsident beschwört die Welt, dass Österreich anders ist, als es sich im Ibiza-Video präsentiert. Ich möchte das in Frage stellen: Ich zweifle, dass es in Europa ein anderes Land gibt, in dem eine Partei, deren Spitzen sich vor versteckter Kamera derart unmissverständlich von ihrer zutiefst korrupten, menschenverachtenden Seite zeigen, in darauf folgenden Wahlen nur 2,5 Prozent Zustimmung verliert. Dass 40.000 Wähler H.C. Straches Auftritt sogar mit ihrer Vorzugsstimme belohnen, erinnert an jene Wähler Donald Trumps, die ihn nicht wählten, obwohl, sondern weil er zu jeder Sauerei bereit ist.

Das westeuropäische Land, von dem sich Österreich am wenigsten unterscheidet, ist wohl Italien. Auch dort ist eine rechtsextreme Partei zuletzt so stark wie die FPÖ geworden; auch dort war es möglich, vor faschistischen Denkmälern wie bei uns vor der Hofburg neofaschistische Reden zu halten. Man hat dort als Verwandte Mussolinis, die sich nicht von ihm distanziert, sogar beste Chancen auf ein politisches Amt. Aber Mussolini war nicht Hitler – und ich glaube nicht, dass die Lega Nord bei der EU-Wahl so erfolgreich gewesen wäre, wenn Matteo Salvini sich in einem Video so klar zur Korruption bekannt hätte wie H.C. Strache.

Schon Kreiskys Politik wäre in Deutschland nicht möglich gewesen

 Am deutlichsten unterscheidet sich Österreich von Deutschland, obwohl es die ähnlichste Vergangenheit hat.

  • Eine in Deutschland aus dem Lager der „Ehemaligen“ hervorgegangene rechtsextreme Partei, die NPD, erreichte dort bei Wahlen maximal 6 Prozent – die FPÖ zuletzt 26 Prozent.
  • Ein Parteiobmann wie Friedrich Peter, der zwei Jahre hindurch in einer Kompanie Dienst tat, die mit nichts als Massenmord hinter der Front befasst war, der dies verschwieg und damit konfrontiert, erklärte, „ich habe nur meine Pflicht getan“, wäre in Deutschland am nächsten Tag geächtet – Österreichs Parlament verabschiedete ihn mit standing ovations. Kein deutscher Kanzler hätte sich, wie Bruno Kreisky, eine Sekunde hinter Peter gestellt, weil er ihm die Duldung seiner Minderheitsregierung verdankte. Und natürlich hätten in dieser Regierung keine vier ehemaligen NSDAP-Mitglieder, darunter ein SS-Mann, Platz gehabt.
  • Ein deutscher Parteichef, der, wie Jörg Haider, vor ehemaligen SS-Leuten erklärt hätte, dass er sie für ihre Gesinnungstreue bewundert, wäre am nächsten Tag in der Versenkung verschwunden – in Österreich führte er seine Partei in zwei Regierungen mit VP-Chef Wolfgang Schüssel.
  • Und mit H.C. Strache wurde jemand, der noch in den Achtzigerjahren der Neonaziszene angehörte, Vizekanzler unter Sebastian Kurz und blieb es anderthalb Jahre trotz „Liederbuch“, „Christchurch“ und „Ratten“, ohne dass Kurz oder die FPÖ an Zustimmung verloren hätten.

FP -Wähler sind selten Ex-Neonazis – FP- Funktionäre leider oft

Die Wähler, die diese FPÖ politisch so stark machen, sind – das passt zu Alexander Van der Bellens Aussage- nur selten Neonazis. Sie wählen diese Partei aus Protest gegen die Vernachlässigung ihrer Interessen, aus Angst vor Konkurrenz durch Migranten oder aus Ärger über schwarz-rote Pfründe. Von der „Vergangenheit“ haben sie mangels „Bewältigung“ keine Ahnung und in die Gesinnung der FP- Funktionäre, die sie mit ihrer Stimme in höchste Ämter befördern, haben sie keinen Einblick, weil sie bestenfalls die Kronenzeitung lesen.

Die Funktionäre der FPÖ sind das entscheidende Problem: Ein halbwegs intelligenter, halbwegs anständiger, an Politik interessierter Bürger wird kaum FPÖ-Funktionär, weil sich diese Partei nie glaubwürdig von der „Vergangenheit“ distanziert hat. Das wird fast nur, wer zu dieser Vergangenheit einen Bezug hat, der sie ihm in einem milderen Licht erscheinen lässt -weil beispielsweise sein Vater oder Großvater ein schwerer Nazi war. Ich gebe zu, dass es sehr schwer ist, sich von einem solchen, privat vielleicht sehr liebenswerten Menschen zu lösen, aber in Deutschland rückt eben kaum jemand zum politischen Funktionär auf, der diese politische Loslösung nicht vollzogen hat.

Die verhängnisvolle Rolle der Kronenzeitung

Wenn ich mich frage, warum sich Österreich so anders als Deutschland entwickelt hat, dann ist es natürlich die ihm zuerkannte Rolle als Hitlers „erstes Opfer“, die die Bevölkerung ihre „Täter“ verdrängen ließ. Die Causa Waldheim hat diesen Prozess nicht ausreichend beendet. Denn er war- wie Hubertus Czernin und ich im profil belegten- weder ein Kriegsverbrecher noch auch nur ein enthusiastischer Mitläufer. Das Ausmaß der weltweiten Empörung (die damit verbundenen Schlagzeilen) stand daher in einem Missverhältnis zur Realität. Indem die Kronenzeitung aus diesem Missverhältnis eine „Kampagne“ gegen Österreich und Waldheim konstruierte, erlaubte sie ihren Lesern, ihn „jetzt erst recht“ zu wählen.

Es ist das besondere – aber nicht zufällige – Pech Österreichs, dass die Kronenzeitung sein mit Abstand einflussreichstes Medium ist. Ihr als Blattmacher begnadeter Herausgeber Hans Dichand hat stets genau diese Art von Umdeutung vorgenommen und alle dadurch geweckten Ressentiments geschürt. So empörte er sich mit durchschlagendem Erfolg, dass eine Ausstellung aufzeigte, dass auch die Wehrmacht Kriegsverbrechen beging oder dass man ihren Helden das Ehrengrab aberkannte. Noch jeder FPÖ -Obmann, von Peter über Haider bis Strache, wurde durch die Berichterstattung der Kronenzeitung gefördert. Vor allem beförderte sie täglich die Unterscheidung, die unser vorsteinzeitliches Denken prägt: Die Unterscheidung zwischen „uns“, die wir fleißig, begabt, anständig, usw. sind und alle „anderen“.

Politiker, die das erfolgreich nutzen, nennt man in Deutschland faschistoid.

 

 

6 Kommentare

  1. Die These von den Protestwählern teile ich nicht. Ich halte mehr als 30 % der österreichischen Bevölkerung für der Gesinnung nach rechtsextremistisch. Wie oft haben wir nicht alle schon gehört: „Das hätte es unterm Hitler nicht gegeben.“ Gestern habe ich ein Auto mit einem Aufkleber „Back to the Führer“ gesehen. Ein Zehnjähriger in der Volksschulklasse meines Sohnes hat vor Kurzem verkündet: “ Alle Juden gehören vergast.“
    Viele Wähler der FPÖ haben sicherlich eine noch extremere Einstellung als die Funktionäre der FPÖ.

    Eine Ursache dieser katastrophalen Entwicklung ist sicher in der „Schwamm drüber Politik“ nach 1948 zu finden. Auch unsere „Heimkehrer“-Vereine habe das Ihre dazu beigetragen.
    Die Zahl von 100.000 Followern des Youtube-Channels von Martin Sellner finde ich einfach nur gruselig. Es scheint für viele Menschen in Österreich der Untergang von 1945 nicht komplett genug gewesen zu sein.

  2. Sehr geehrter Herr Lingens,

    ich war an und für sich auch immer der Meinung gewesen, dass man in Deutschland die Nazi-Zeit wesentlich intensiver und konsequenter aufgearbeitet hatte als in Österreich. Bis ich dann einmal das Buch „Hitler’s Eliten nach 1945“ (Norbert Frei) gelesen habe. Da mußte ich schon staunen, wie einfach es für ehemalige Nazis war, nach 1945 wieder Fuß zu fassen und wieviele von ihnen sogar große Karriere machen konnten. Auch in Regierungsnähe. Kreisky’s Politik wäre in Deutschland nicht möglich gewesen? In obigem Buch wird eine ehemalige Nazi-Größe geschildert, der engster Berater von Konrad Adenauer wurde und wo Adenauer sich geweigert hatte, ihn wegen seiner Vergangenheit zu entfernen (ich kann mich nicht an den Namen erinnern. Vielleicht gehörte er nicht wie Peter einem SS-Säuberungskommando an, aber er war zweifelsfrei eine bekannte Nazi-Größe gewesen). Die wesentliche Frage wäre natürlich, in wieweit sich die Geisteshaltung dieser ‚Ehemaligen‘ geändert hatte. Möglicherweise hat es da in Deutschland mehr ‚Erleuchtung‘ gegeben als bei vielen Österreichern, wo man ja jahrzehntelang nach 1945 dieses Thema buchstäblich zugeschüttet hatte.

    Ich hatte 1967 maturiert. Während meiner ganzen Gymnasialzeit gab es keinen einzigen Fall, wo man vielleicht auch nur im Ansatz mit Professoren über die Nazizeit ins Gespräch kommen konnte. Wenn gefragt, dann antwortete der Geschichtsprofessor lakonisch „Kinderl, der Geschichtsunterricht hört 1918 auf.“ Auch im täglichen Leben kann ich mich nicht erinnern, jemals große Diskussionen miterlebt zu haben. Auf keinen Fall habe ich jemals irgendjemanden sinngemäß sagen gehört „Was wir damals gemacht haben, war grundfalsch. Das bereue ich zutiefst.“

    Und somit komme ich zu Jörg Haider, weil ich später oft dachte, dass ohne Jörg Haider die Zuschüttungsstrategie vielleicht sogar auf Dauer aufgegangen wäre. Unvergesslich ist für mich ein Auftritt Jörg Haiders in der deutschen Sendung „Talk im Turm“. Erich Böhme hatte vor der Sendung angekündigt „Wir werden den Mythos Haider entzaubern!“ Helfen sollten ihm dabei die linken Mitstreiter Freimut Duve und Ralph Giordano. Michael Glos von der CSU sollte offenbar Haider Feuerschutz geben. Kurioserweise war der bodenständige no-nonsense Glos der einzige, der Haider erfolgreich die Stirn bieten konnte. Die anderen hatte Haider am Ende der Sendung komplett um den Finger gewickelt. Böhme wandte sich abschließend an Giordano mit der Bemerkung „dieser Herr Haider ist doch ein ganz netter Kerl, nicht wahr?“ Giordano nickte zustimmend.

    Damals fragte ich mich: Was, wenn Deutschland einen Jörg Haider gehabt hätte? Wären auch dann noch die erleuchteten Ehemaligen erleuchtet geblieben? Oder – und ich wiederhole mich – wäre vielleicht Österreich erleuchtet geworden, hätte es keinen Jörg Haider gegeben? Einen gewissen Bodensatz an Unerleuchteten hat es damals in Deutschland wahrscheinlich genauso gegeben wie in Österreich. Was aber Deutschland nicht hatte, war ein „Talent“ wie Haider („Talent“ unter Anführungsstrichen), der diesen Bodensatz zusammenführen und aus ihm eine Führungsclique heranzüchten konnte, die sich dann selbst erneuerte und die sich meistens sehr geschickt als „erleuchtet“ dargestellt hat (von den vielen „Einzelfällen“ einmal abgesehen).

    Wenn also heute FPÖ Wähler nur selten ex-Neozazis sind, FPÖ Funktionäre aber oft, dann führe ich das auf Jörg Haider zurück. Nur wer Haider miterlebt hat, kann m. E. ein zutreffendes Urteil abgeben, warum die FPÖ nach wie vor so erfolgreich ist. Die meisten Deutschen haben Haider nicht miterlebt, sondern nur über ihn gehört. Strache wird sich vom Ibiza-Video möglicherweise nie erholen (obwohl ich mir da nicht ganz sicher bin), würde aber Haider morgen von den Toten auferstehen, wäre er wieder in aller Munde.

  3. Danke Herr Lingens, dass Sie denen, die auf der Suche nach den verlorenen Werten sind, mit derartigen Erinnerungen helfen. Sonst hätte ja Karl Kraus recht, wenn er sagte, dass die Menschheit aus der Geschichte eines gelernt hat, dass sie aus der Geschichte nichts gelernt hat.

  4. Lingens Argumentation ist extrem vergangenheitsbezogen.
    2015 hat sehr vieles in Europa und Österreich verändert. Und deshalb verzeihen auch viele die schwersten Fehler der FPÖ.
    PS: Die SPÖ kommt nicht nur wegen Rendi-Wagner vom Fleck …

  5. Respekt, das war vom Kickl genial: Da stolpert die FPÖ über das Ibiza-Video, Kickl überlegt wie die Blauen da mit Gewinn rauskommen und läßt die SPÖ in die Falle laufen:

    Wenn die SPÖ einen Mißtrauensantrag gegen die Regierung stellt dann bietet er den Roten Unterstützung an und prompt nimmt das Unheil seinen Lauf.

    SPÖ bringt Antrag ein, FPÖ stimmt mit, die Regierung stürzt, das Volk ist aufgebracht, ausschließlich über die SPÖ empört und bestraft nur die Roten.

    Kickl hat es mit seiner genialen Strategie geschafft, dass die SPÖ auf den dritten Platz rutscht und nicht mehr weiß wie sie da raus kommt – wie die plötzliche rote Personaldebatte beweist.

    Und die FPÖ ist strahlende Zweite und hat den Ibiza-Skandal ohne viel Schaden abgestreift.

    Respekt Herr Kickl, das muss man einmal in kürzester Zeit so umsetzen und zusammenbringen!

    1. Aber überhaupt nicht.

      Es war doch von vornherein völlig klar, dass die FPÖ einen Misstrauensantrag, von wem auch immer, gegen Kurz unterstützen oder selbst einen einbringen würde. Alles andere war doch undenkbar, nachdem Kurz den Bundespräsidenten um Entlassung Kickls gebeten hatte.

      Und ebenso undenkbar war es, dass die SPÖ Kurz das Vertrauen nicht versagen würde. Sie war die größte Oppositionspartei, sie hatte von Anfang an kein Vertrauen in Kurz. Wer hätte es verstanden, wenn sie ihm nach diesem Skandal plötzlich ihr Vertrauen ausgesprochen hätte? Kein Mensch.

      Was Sie da also als geniale Leistung Kickls rühmen, war weder eine Falle für die SPÖ noch (das schon gar nicht) das Ergebnis einer strategischen Überlegung, auch wenn das durch eine blaue Brille betrachtet so aussehen mag. Es war schlicht die logische Abfolge der Entscheidungsprozesse in zwei Parlamentsfraktionen, die unabhängig voneinander und aus ganz unterschiedlichen Gründen zum selben Ergebnis gelangten, nämlich dass Kurz kein Vertrauen verdient.

      Um daraus eine „Rendi-Kickl-Koalition“ zu basteln, wie Kurz es auf allzu durchsichtige Weise macht, oder die „geniale“ Handschrift eines Kickl zu vermuten, muss man schon sehr Kurz- oder Kickl-verliebt sein. Und Liebe macht bekanntlich blind.

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