Die Corona-Krise zeugt Zweifel an neoliberaler Politik. Die Corona -Hilfe zeugt Spekulationen auf eine „Wende“. Wie berechtigt sind sie?
Eine Reihe von Ökonomen glaubt (hofft) mit Stephan Schulmeister, dass die Corona -Krise „das Ende des Neoliberalismus auf allen Ebenen bedeutet“. Marcel Fratzscher, Chef des keineswegs linken Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), scheint dessen sogar sicher: „Ich würde schon sagen, dass die Corona-Krise so etwas wie der letzte Sargnagel für den Neoliberalismus ist.“
Ich bin nicht so guter Hoffnung. Die These des Neoliberalismus, dass ein „schlanker Staat“ ständig „sparen“ müsse, scheint mir zu fest in den Köpfen von Ökonomen und führenden Politikern des „Nordens“, von Sebastian Kurz bis Angela Merkel, verankert, als dass sie davon ließen. Da Deutschland die EU dank seiner wirtschaftlichen Überlegenheit unverändert dominieren wird, bin ich trotz des gewaltigen Corona -Hilfspaketes auch keineswegs sicher, dass eine andere These zutrifft, die derzeit geäußert wird: Dass die Corona-Krise dazu führen würde, dass die EU zu neuem Zusammenhalt findet.
Ihre Mitglieder haften zwar erstmals anteilig für einen gemeinsamen Kredit und sie hat erstmals eigene Einnahmen, ihn abzuzahlen- aber Merkel oder Kurz versichern glaubwürdig, dass das so einmalig wie Covid-19 bleiben muss.
Das unveränderte Ziel
Außer Zweifel steht nur, dass begriffen wurde, dass Sparen des Staates bei der medizinischen Versorgung, etwa der Zahl der Intensivbetten, ein Problem darstellt. Macrons diesbezügliche Worte ließen tatsächlich hoffen: “Kostenlose Medizin und Sozialstaat sind keine Lasten, sondern unverzichtbare Güter. Diese Pandemie hat deutlich gemacht, dass es Leistungen gibt, die außerhalb der Marktgesetze gestellt werden müssen. Wir müssen das Modell hinterfragen, in das sich unsere Welt seit Jahrzehnten verstrickt hat.”
Die aktuelle Hilfe orientiert sich zumindest am ersten Satz dieses Zitats: Italien (Spanien) soll, ja muss Zuschüsse voran zur Verbesserung seines Spitalssystems verwenden. Auch dass das Geld voran für Investitionen in Digitalisierung und Klimaschutz verwendet werden soll ist neu und sinnvoll. Im Kern aber hat die von Italien (Spanien) geforderte Wirtschaftspolitik unverändert den Abbau der Staatsschuld durch „Sparen des Staates“ zum Ziel. Das aber geht überall mit einem Abbau des angeblich „überbordenden“ Sozialstaates einher. Jeder Budget-Überschuss (auch „der erste seit 1954“) bedeutet mathematisch, dass den Bürgern via Steuern mehr weggenommen als via Sozialleistungen und Umverteilung zurückgegeben wird. Kurz` „Sparen im System“ ist zwar in minimalem Umfang möglich, verläuft de facto aber fast durchwegs so wie die Zusammenlegung der Krankenkassen. In 99 Prozent der Fälle gilt: Je kleiner (sparsamer) das Budget, desto weniger soziale Leistungen erbringt es.
Ich verzichte darauf zum hundertsten Mal zu begründen, warum verminderte Staatsausgaben zwingend auch das Wirtschaftswachstum mindern, aber ich halte fest, dass selbst SPD-Finanzminister Olaf Scholz wie Gernot Blümel darauf besteht, dass die Coroana-Ausgaben „so bald wie möglich“ (ab 2024) durch staatliches Sparen hereingeholt werden sollen.
Das wird zwar misslingen- aber dass es versucht wird, wird ausreichend Schaden anrichten.
Das unveränderte Kern-Problem
Italien wird immer als ein Staat dargestellt, der nicht zu sparen versucht. Dabei hat es im Gegenteil seit 1995 „Primärüberschüsse“ erzielt und sich damit die von mir behaupteten Probleme eingehandelt. Ich muss Sebastian Kurz aber darin Recht geben, dass vieles an Italiens „System“ schon zuvor kaputt war. Immer gab es den gewaltigen Rückstand des Südens; aufs Engste damit verbunden sind Mafia und Korruption; beides reichte und reicht bis weit in fast alle Parteien, egal ob Kommunisten, Sozialisten oder Berlusconis Forza Italia und hat bekanntlich dazu geführt, dass mit der Lega Nord eine rechtsautoritäre und mit „Cinque Stelle“ eine linksanarchische Alternative immer mehr Zulauf fanden.
Ich weiß nicht, wie diese Zustände verändert werden können – wohl aber, dass die aktuelle Koalition unter Giuseppe Conte die relativ beste und letzte Chance dafür bietet, Italien in der EU zu halten. Deshalb hielt ich für so dringend, sie durch „Zuschüsse“ zu unterstützen und halte für absurd zu glauben, dass diese Chance größer wäre, wenn „Kreditzinsen“ Italien mehr „Disziplin“ abverlangten.
Italien ist keine „kaputte“ Volkswirtschaft: Trotz aller hier angeführten „Systemmängel“ hatte es noch 2004 das gleiche BIP/Kopf wie Deutschland.
Erst danach hat „Austerity“ es wie alle Länder der EU (selbst Deutschland) Wirtschaftswachstum gekostet, aber noch nicht in die aktuelle Krise gestürzt: In die versank es erst, seit Deutschland (Holland, Österreich, die Schweiz) ihm via Lohnzurückhaltung wesentliche Marktanteile weggenommen haben. Lohnzurückhaltung ist zwar nichts genuin Neoliberales – aber es wird, wie alles, was in der Wirtschaft de facto passiert, von Neoliberalen als „Marktkonform“ akzeptiert. Alfas oder Fiats haben damit heute nicht nur einen schlechteren Ruf als VWs oder BMWs, sondern sind im Verhältnis auch teurer.
Die von Deutschland perfektionierte Lohnzurückhaltung, der Österreich sich nicht einmal entziehen könnte, wenn es das wollte, ist und bleibt der zentrale Grund für die Nord-Süd-Spaltung der EU. Und nichts, absolut nichts, spricht dafür, dass Deutschland diesen Zustand durch massiv erhöhte Lohnabschlüsse beenden will.
Daher bin ich, was den Erhalt der Eurozone betrifft, unverändert pessimistisch.
2 Kommentare
Endlos wiederholt Hr. Lingens den Vorwurf, die Lohnzurückhaltung in Deutschland sei am Grossteil der Probleme des europäischen Südens schuld. Aber hat irgendwer Italien etc. dazu gezwungen, die Löhne weit über den Produktivitätszuwachs anzuheben?
Im übrigen gibt es in der Welt noch viele andere, größere Probleme als die Schulden Italiens. Zum Beispiel die täglich anschwellende Hetze mächtiger Kreise in den USA gegen die „gelbe Gefahr“. Bereitet sich der military-industrial complex (c.H.Truman) auf einen neuen großen Krieg gegen China und damit sich auftuende Profitmöglichkeiten vor?
In Deutschland wird sich auch die, unter der Federführung der SPD (Hermann Scheer) vorangetriebene Energiewende positiv auf die hohe Produktivität auswirken. Bei PV-und Windkraftanlagen hat Deutschland schon Viel erreicht. Da hat der Süden noch viel Potential und Trümpfe in der Hand. Die Energiebereitstellung muss auch dezentrale Wertschöpfung ermöglichen und viele neue Erwerbsquellen erschließen. Fiat und Alfa könnten Biogasanlagen zur Humusproduktion bereitstellen. Jede Gemeinde soll verplichtet werden mit den organischen Abfällen Energie und Dünger zu erzeugen. Die Arbeit würde uns nie ausgehen. Es würde dazu führen, dass nie mehr unbestellte Felder monatelang wie große Wunden offen in der Landschaft liegen, und den Resthumus, in dem Unmengen Kohlendioxid aus der Luft gebunden sind, zur Oxidation freigeben. Sparen ist Stagnation und zeigt die Fesselen die die Konzerne schützen. Die Milliarden, die derzeit in die Fluggesellschaften gepumpt werden sind jedenfalls verloren. Da helfen auch Kredite nichts.