EU und Frankreich leiden an Deutschland

Die Unruhen in Frankreich und der Aufstieg der AfD in Deutschland oder der FPÖ bei uns spielen vor dem selben, von deutscher Politik geschaffenen ökonomischen Hintergrund

 Natürlich haben die brennenden Autos in Frankreich mehrere Gründe. Die Tradition, Konflikte auf der Straße auszutragen, reicht bis zur französischen Revolution zurück; der Abstand zwischen Volk und Elite war schon vor Emanuel Macron ein sehr großer; Frankreichs Geschichte als Kolonialmacht hat ihm immer schon ein Rassen – und Zuwanderungsproblem beschert. Aber der zentrale Grund für die von Randalierern angezündeten Autos ist Frankreichs Jugendarbeitslosigkeit von 18,4 Prozent. Und deren Hintergrund ist, wie überall im Süden der EU, ein deutscher.

Ich weiß nicht, welche Zahlen ich noch anführen muss, um klar zu machen, wie sehr die von Deutschland durchgesetzten Maastricht- Kriterien der EU wirtschaftlich schaden. Nur das durch sie erzwungene Sparen des Staates erklärt den hier schon einmal angeführten Tatbestand: Das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Eurozone war 2009 nach der Finanzkrise nur um 9.615 Dollar geringer als das der USA – doch mit dem Spar-Pakt hat sich dieser Abstand bis 2021auf 27.797 Dollar fast verdreifacht. Mein nur von Ex-Notenbank-Chef Ewald Nowotny für lesenswert befundenes Buch über die fortgesetzte „Zerstörung der EU“ zeigt an Hand von Grafiken zum Wirtschaftswachstum diverser EU -Länder, wie es 2012 mit der Verschärfung der Maastricht-Kriterien durch den Spar-Pakt regelrecht einbrach, und mit der Saldenmechanik gibt es eine schlüssige ökonomische Theorie, die das mathematisch erklärt. Aber von Angela Merkels Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) über Olaf Scholz` Finanzminister Christian Lindner (FDP) bis zu unserem Magnus Brunner (ÖVP) gibt es niemanden in diesem Amt, der daraus rationale Schlüsse zieht. Für die EU- Kommission bleibt er beschlossene Politik.

Eine seiner Folgen – die „kaputtgesparte Bundeswehr“- ist immerhin in den deutschen Sprachgebrauch eingegangen, eine andere, die vernachlässigte deutsche Bahn, wird ihrer Verspätungen wegen zumindest diskutiert. Gefordert wird jetzt sogar der Bau von 400.000 Sozial-Wohnungen pro Jahr, die der sparende deutsche Staat unterließ. Voran in Paris mit seinen unerschwinglichen Wohnungen unterließ er in den Vororten neben dem sozialen Wohnbau auch die notwendigsten Investitionen in Einrichtungen sozialen Ausgleichs: Die dort seit jeher bestehenden Gettos mussten wie Geschwüre wachsen und sich verfestigen. Bei 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit in diesen Regionen musste Kriminalität zur vorrangigen Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufstieg werden.

Die zweite Frankreich und der EU von Deutschland aufgebürdete Plage ist seine „Lohnzurückhaltung“. Dass die deutschen Löhne seit 2000 nicht mehr mit der Produktivität wuchsen, während französische Löhne das weiterhin taten, musste dazu führen, dass Frankreich die Marktanteile verlor, die Deutschland gewann. (Nicht anders war es in Italien oder Spanien, wo die Lohnstückkosten noch stärker über den deutschen liegen.) Weniger Marktanteil bedeuten in allen Sektoren der Wirtschaft weniger Verkäufe und damit eine geringere Auslastung der französischen (spanischen, italienischen) Industrie = höhere Arbeitslosigkeit, voran bei Jungen. Der „Süden“ hat die Arbeitslosigkeit, die Deutschland, Österreich, Holland und die Schweiz durch ihre Lohnzurückhaltung vermeiden.

Gäbe es keinen gemeinsamen Euro, so wertete die deutsche, holländische und österreichische Währung dramatisch auf, (so tut es nur der Schweizer Franken) und auf den Märkten herrschte wieder Chancengleichheit – so gab und gibt es ihn und die innereuropäische Ungleichheit wuchs und wächst und wird angesichts der jüngsten EZB-Beschlüsse auch noch durch höher Zinsen für den „Süden“ befördert.

Im „Norden“ bleibt man bei der fatalen Lohnpolitik, weil es ihm relativ zum „Süden“ natürlich gut geht- absolut gesehen geht es wachsenden Teilen seiner Bevölkerung schlecht: Es nutzt ihr wenig, dass das Bruttoinlandsprodukt ständig steigt, wenn ihr Lohnanteil daran immer geringer und nur der Gewinnanteil der Aktionäre immer größer wurde. Eine immer größere Gruppe beklagt sinkende Reallöhne und mit ihnen schon vor der aktuellen Teuerung sinkende Kaufkraft = sinkender Wohlstand. In Wirklichkeit ist diese Wirtschaftspolitik surreal: In der stärksten Volkswirtschaft des Nordens, in Deutschland, ist wie bei uns jedes fünfte Kind armutsgefährdet. Und da wundert man sich, dass immer mehr finanziell Zurückleibende in Regionen, die der sparende Staat meist außerdem vernachlässigt, AfD und FPÖ wählen? Dass EU-kritische Parteien in allen Mitgliedsländern immer stärker werden?

Letzter, kaum wahrgenommener, künftig denkbar kritischer Nachteil der Lohnzurückhaltung ist die immer geringere Zunahme der Produktivität in der EU: Holland verzeichnet das geringste Produktivitätswachstum seit vierzig Jahren, auch in Deutschland und Österreich wächst sie immer langsamer und damit in der gesamten EU so langsam wie nie: Angesichts immer geringerer Lohnerhöhungen in ihren wirtschaftsstärksten Ländern fehlt die Peitsche, die Unternehmen zur Modernisierung = Rationalisierung ihrer Anlagen, etwa durch Digitalisierung, antreibt. So wuchs das reale BIP pro Kopf in Holland im letzten Jahrzehnt nur um 1.477 Dollar, in Österreich um 3.211 und in Deutschland um 6.401, in der EU als Ganzes um 1.523 Dollar – gegenüber den erwähnten 27.797 Dollar in den USA.

Aber Zahlenvergleiche interessieren die Spitzen der EU-Politik nicht wirklich. Sie stehen darüber.

 

 

 

4 Kommentare

  1. Also dass Deutschland jetzt auch noch verantwortlich für die dramatische Postmigrantensituation in Frankreich verantwortlich gemacht werden soll, sprengt schon die Grenzen der Vernunft. Ich empfehle, den kürzlichen diesbezüglichen Kommentar von Eric Gujer (NZZ) zu lesen.

    Griechenland wurde in der Tat kaputt gespart. Die Troika folgte der Logik der Austrian School, dass bei großen Krisen ein radikaler Anpassungsprozess gemacht werden muß (statt Probleme in die Zukunft zu schieben). Als Tsipras Mitsotakis 2019 das Amt übergab, übergab er einen Staat, der ‚kaputt gespart‘ (= radikal angepaßt) worden. Ein aufgelegter Elfmeter für Mitsotakis, denn auf diesem radikal angepaßten Staat konnte er relativ leicht neu aufbauen. Ergebnis: Arbeitslosenquote von fast 30% auf 10% (weiterhin sinkende Tendenz); eine der höchsten Wachstums- und niedrigsten Inflationsraten in der EU; Rekorde bei Exporten und im Fremdenverkehr; gigantische Rekorde bei Auslandsinvestitionen; rasanter Anstieg der Sparguthaben; u.v.m. Kurz und gut: Hans-Werner Sinn hatte recht und Krugman/Flassbeck/Schulmeister (und Lingens) haben Erklärungsbedarf.

    1. Genauso ist es. Auf Grund mangelnder Lohndisziplin werden die genannten Mittelmeer-Anrainer immer weniger konkurrenzfähig. Kroatien folgt gerade nach.

      1. Wir erleben zur Zeit eine historische Entwicklung: zum ersten Mal seit Menschengedenken ist die Teuerung in Griechenland wesentlich niedriger als in den meisten anderen EU Staaten (ca. 1/4 von Österreich!). Das könnte zu einer deutlichen Anpassung von Griechenlands Wettbewerbsfähigkeit führen.

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