Deutschland als Europas „kranker Mann“

Der britische „Economist“ diagnostiziert ein deutsches „Formtief“. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ stimmt zu und ignoriert die eigene Mitschuld.

Im Juli schrieb ich hier die EU kranke an Deutschlands Wirtschaftspolitik – jetzt schreibt der britische „Economist“ Deutschland selbst sei zum „kranken Mann“ Europas geworden. Die Wirtschaft stagniere, die Inflation sei weiter hoch, laut Prognose des Internationalen Währungsfonds sei Deutschland das einzige Land der G-7-Gruppe, dessen Wirtschaft heuer schrumpfe. Sie litte unter hohen Energiepreisen, Fachkräftemangel, mangelnden Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, in Zukunftstechnologien wie die Digitalisierung, habe sich bei der verkorksten Energiewende mit dem Atomausstieg ein Eigentor geschossen und sehe einer sich rapide verschlechternden Demographie entgegen: Zwei Millionen Arbeitskräfte gehen in den nächsten fünf Jahren in Pension. Bezüglich jener Länder, die wirtschaftlich besonders eng mit Deutschland verflochten sind – voran die Schweiz und Österreich – hegt der Economist (wie ich) wenig Zweifel, dass die rezessive deutsche Entwicklung demnächst auf sie durchschlägt.

Erstaunlicherweise schloss sich die auf Wirtschaft spezialisierte „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) dieser Economist-Diagnose in einem großen Kommentar weitgehend an. In der Schweiz, so führte sie aus, sei man „beunruhigt über Deutschlands Formtief“- schließlich seien die Deutschland-Exporte der Schweizer Tech-Industrie im zweiten Quartal um 5,5 Prozent gesunken. Noch größere Sorge müsse das deutsche Formtief Österreich bereiten. Schließlich machten deutsche Urlauber die mit Abstand größte Gruppe seiner Touristen aus und sei es der größte Zulieferer der deutschen Autoindustrie. Allerdings, so vermerkt die FAZ Deutschlandkritisch, kopple es sich ab: Seit Ende 2017 ist die Industrieproduktion in Deutschland um 11 Prozent zurückgegangen, in Österreich aber um 8 Prozent gestiegen. Dennoch gehen 30 Prozent aller österreichischen Exporte Österreichs nach Deutschland und so lange man sich auch über dieses bessere Wachstum freute, sei es damit mit Vorliegen der Daten fürs 2. Quartal vorbei:„Der deutsche Abstieg sollte ein Weckruf für Österreich sein.“

Schadenfreude wecke das deutsche Formtief auch bei Österreichs Nachbarn nicht, ist die deutsche Autoindustrie doch auch in Ungarn und vor allem Tschechien der größte Arbeitgeber und hat die einstige deutsche Paradeindustrie doch die größten Probleme: Hat sie schon die Hybridtechnik verschlafen, so begriff sie auch erst mit Verspätung, welche Konkurrenz Mercedes, BMW oder Audi in Tesla erwachsen ist. VW, das bisher in China einen Absatzrekord nach dem anderen erzielte, wurde heuer vom chinesischen Autobauer Byd bei Verbrennern wie E- Autos überholt und das bedeutet vor allem für die Zukunft nichts Gutes: China  baut mit Byd oder Nio exzellente preiswerte E-Autos, die den deutschen E-Autos demnächst weltweit massive Konkurrenz machen werden. Die Summe dieser Entwicklungen sei zweifellos geeignet, die Rezession in Deutschland zu vertiefen und das müsse zwangsläufig massiv auf Österreich abfärben.

Zwar ist der so Deutschland kritische Artikel der FAZ  wohl davon beeinflusst, dass Deutschland nicht mehr von einer CDU-Kanzlerin, sondern einem SPD-Kanzler regiert wird, aber es bleibt doch keinem Leser verborgen, dass das „Formtief“ nicht erst mit ihm begonnen hat. Noch mehr erstaunt mich freilich, dass die FAZ so völlig zu ignorieren vermag, worin  frühere Texte des Economist die zentrale Ursache des deutschen und europäischen Formtiefs sehen: In Angela Merkels „Austerity-Politik“, die als Staatsschuldenbremse im deutschen Grundgesetz verankert ist und via Spar -Pakt der gesamten EU verordnet wurde. Zwar erwähnt die FAZ die rechte italienische Zeitung Verità, die diese Sparpolitik einen „deutschen Selbstmord“ nennt- „die ordoliberale (Spar)-Doktrin von Walter Eucken ist Vergangenheit, der Traum vom friedlichen Außenhandel mit aller Welt ist ausgeträumt“- aber sie tut diesen Hinweis als Ausrede für mangelnde italienische Fiskaldisziplin ab, statt sich mit ihm auseinanderzusetzen. In Wirklichkeit trifft genau das zu, was Verità behauptet: Mangelnde Staatsausgaben verhinderten nicht nur, dass sich die Wirtschaft der EU nach der Finanz- und der Corona- Krise  so vollständig wie die  Wirtschaft der USA erholte, sondern sie veranlassten die EZB auch dazu, das zurückbleibende Wirtschaftswachstum mittels billigen Geldes zu befördern. (So sehr EZB-Chef Mario Draghi darin immer einen Notbehelf zum Ausgleich der Austerity- gebremsten Fiskalpolitik gesehen hat – von ihm vergeblich geforderte vermehrte Staatsausgaben wären ihm weit lieber gewesen). Zu Recht vermutet Verità auch, dass die Behauptung, die lockere Geldpolitik der EZB hätte die aktuelle Inflation ausgelöst, jetzt  dazu geführt hat, dass die EZB die Zinsen drastisch erhöht und damit die aktuelle Rezession ausgelöst hat.

Die FAZ hat alle Fehler der deutschen Wirtschaftspolitik entscheidend befördert: Sie vertrat und vertritt die Staatsschuldenbremse wie kein anderes Medium und sie feiert bis heute die Agenda 2010, die die deutsche „Lohnzurückhaltung“ sicherstellte. Mit nunmehr auch in Deutschland ersichtlichen Folgen: Die damit zurückgehaltene Kaufkraft erschwert es mehr von den deutschen Waren, die sich nicht mehr so leicht im wirtschaftlich schwächelnden  China absetzen lassen, in Deutschland selbst abzusetzen; und die gewachsene Gruppe der Geringverdiener hat die AfD zur zweitstärksten Kraft des Landes gemacht.

6 Kommentare

  1. Deutschland wirtschaftlich kranker Mann: diese Tatsache kann nicht mehr schöngeredet werden. Der Strudel wird noch Vieles niederreissen. Krank ist es auch, dass so wenig politisches Interesse, bezüglich der Aufklärung und der Konsequenzen der Sprengung der Nordstream 1+ 2 Pipeline besteht. Deutschland müsste seine Besatzungsmacht nach hause schicken und etwas Selbstbewusstsein tanken. Not macht bekanntlich erfinderisch. Im Erfinden ist Deutschland immer noch eine Weltmacht. Wenn man es geopolitisch zulassen würde.

  2. Deutschland hat sich 2015 mit seiner Willkommenspolitk und 2021 auf Druck der USA (Golf Stream 2) in den Krieg gegen Russland treiben lassen und in Verbindung mit dem Atomausstieg in eine ganz schwierige wirtschaftliche Situation gebracht (Energuepreise). Man hätte auch eine wirtschaftliche Nähe zu Russland anstreben können.
    So wird halt die AfD und bei uns die FPÖ sehr bald die stärkste Partei. Ob es einem gefällt oder nicht …

      1. Jetzt ist es natürlich zu spät. Die USA hätte die Ukraine nicht in die NATO locken sollen – vom Maidan Putsch rede ich gar nicht.. Ganz gescheite und weitsichtige Politiker (z. B. Helmut Schmidt, einer der besten europäischen Politiker meiner Meinung) haben „eine Reaktion“ der Russen erwartet. Mich wundert, dass die allermeisten Politiker und Journalisten (ich spare mir das Gendern) immer nur vom „russischen Angriffskrieg“ sprechen, obwohl sie die Zusammenhänge eigentlich wissen müssten.

      1. Die Leitmedien haben sehr wohl eine Verantwortung als 4. Macht im Staat. Durch einseitige Berichterstattung entsteht Desinformation und daher Mitschuld.

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