Wie viel katholischen Kindesmissbrauch baucht Österreich, bis es Kinder nicht mehr zum Religionsunterricht verpflichtet und katholische Schulen nicht mehr privilegiert?
Der jüngste Skandal um hundertfachen Missbrauch durch 235 katholische Priester in der Diözese München hat es insofern etwas ausführlicher in die österreichischen Nachrichten geschafft, als das Gutachten einer Anwaltskanzlei mit Joseph Ratzinger erstmals einem, wenn auch emeritierten Papst „Vertuschung“ vorwirft. Dem aktuellen Skandal gehen freilich zahllose vergleichbare voraus. 2021 ermittelte eine Untersuchung in Frankreich 330.000 Missbrauchsopfer katholischer Priester zwischen 1950 und 2020. Im US -Bundesstaat Illinois wurde 2019 gegen 690 Priester wegen Missbrauchs ermittelt. Im selben Jahr stellte eine Untersuchung in Pennsylvania sexuelle Übergriffe auf mindestens tausend Kinder durch 300 Priester fest. 2009 ortete eine Richterin im kleinen, aber erzkatholischen Irland 120 Opfer zwischen 1975 und 2004, dazu 200.000 Kinder „lediger Mütter“, die ihre sündhafte Zeugung in düsteren katholischen Arbeitsheimen büßen mussten.
Überall kann man davon ausgehen, dass die Ermittlungen nur einen verschwindenden Bruchteil des tatsächlichen Missbrauchs zu Tage brachten, denn nicht nur scheuen alle Missbrauchsopfer die Öffentlichkeit, sondern bei den Opfern von Priestern tritt hinzu, dass sie sich oft nicht nur den Tätern, sondern auch dem „lieben Gott“ zum Schweigen verpflichtet fühlen. Gleichzeitig besitzen die Täter beim Vertuschen fast durchwegs die Unterstützung oder mindestens Duldung höchster Vorgesetzter.
In Österreich bedurfte es 1995 eines Journalisten, der als Zögling eines von Kardinal Hans Hermann Groër geführten katholischen Heimes persönlich um die dort verübten Verbrechen wusste, damit ein erster Betroffener zur Zeugenschaft bereit war. Gegen den entsprechenden Bericht des profil wehrte sich aber nicht nur die Kirche: Andreas Khol, damals Klubobmann der ÖVP wollte die Veröffentlichung noch im Vorfeld durch eine gerichtliche Beschlagnahmung verhindern, der damalige Raiffeisen-Chef Christian Konrad, sonst ein denkbar liberaler Eigentümervertreter des Magazins, drohte dem Autor Josef Vozi, Chefredakteur Herbert Lackner und Herausgeber Hubertus Czernin mit dem Hinauswurf, wenn sich der Vorwurf nicht als Niet- und Nagelfest erwiese. Christoph Schönborn, heute diesbezüglich geläuterter Nachfolger Groërs als Kardinal, nannte die Vorwürfe im ORF „infam“. Erst als sich weitere von Groër Missbrauchte meldeten, trat der 1956 als Vorsitzender der Bischofskonferenz zurück – angeklagt wurde er nie.
Wenn die meisten Staaten nicht “Ehrfurcht“- ehrende Furcht -vor der katholischen Kirche verordneten, müsste man sie eine Organisation nennen, die schwersten Verbrechen an Kindern Vorschub leistet und sie systematisch zu vertuschen sucht. Für den Pastoraltheologen Paul Zulehner ist es daher zwingend, dass sie sich systematisch mit dieser ihrer Rolle auseinandersetzt. Sie hat zwar kein Monopol auf Kindesmissbrauch – es gibt ihn auch in evangelischen Einrichtungen, bei den Pfadfindern oder gab ihn dramatisch in Heimen der Gemeinde Wien – aber sie ist darin führend. Entscheidenden Anteil daran hat in meinen Augen sehr wohl der Zölibat: Sexuelle Enthaltsamkeit als Voraussetzung für das Priesteramt muss dazu führen, dass überproportional viele Männer diesen Beruf wählen, die Heterosexualität nicht als erfüllend empfinden oder nie gewagt haben und in Homosexualität gar eine Todsünde sehen – beides muss sie mit Ängsten erfüllen, die sie am ehesten gegenüber Kindern überwinden. Ich halte den Zölibat daher für unvereinbar mit einer erfolgreichen Zukunft der katholischen Kirche: Sie wird bald zu wenig Priester haben, und die, die es weiterhin werden, werden weiterhin in Missbrauchsskandale verwickelt sein.
Aber auch wenn man meine These vom Zölibat als Ursache des Problems nicht teilt, sollten die erwiesene Häufigkeit sexueller Übergriffe katholischer Priester ausschließen, dass der Staat ihren Umgang mit Kindern gesetzlich privilegiert: Katholische Konvikte, in denen es so oft zu Missbrauch gekommen ist, sind deshalb so zahlreich, weil der Staat katholischen Privatschulen, anders als anderen Privatschulen, das Lehrpersonal bezahlt.
Ebenso problematisch scheint mir, dass „Religion“ in Österreich „Pflichtgegenstand“ bleibt, weil die ÖVP der katholischen Kirche dieses weitgehende de facto Monopol nicht nehmen will. Keineswegs untypisch ein Vorfall in der Volksschule meiner Frau: Der Religionslehrer befummelte beim Wandertag eine Neunjährige, blieb aber an der Schule, indem man sich darauf einigte, dass das Mädchen schließlich aus der „Krim“, (einem weniger noblen Teil Döblings) käme und den Priester verführt hätte. Heute mag das nicht mehr ganz so ablaufen, aber es bleibt verantwortungslos, Kinder der besonderen Nähe und Autorität von Religionslehrern auszuliefern, die sich überproportional häufig sexueller Übergriffe schuldig machen.
Es ist hoch an der Zeit, Schule und Kirche zu trennen. „Religion“ kann an öffentlichen Schulen nicht Pflichtgegenstand“ sein. Pflichtgegenstand kann nur ein Ethik-Unterricht sein, der Kindern den allfälligen Nutzen einer Religion für ethische Gebote erläutert, sie auf die Gleichartigkeit dieser Gebote in unterschiedlichen Religionen hinweist und ihnen die Leistungen der christlichen Religionen ebenso vor Augen führt, wie die durch sie geschaffenen Probleme: Den Holocaust hätte es ohne den christlichen Antisemitismus, der die Juden zu Mördern Jesu` stempelt, nicht gegeben.