Österreich sieht in Kultur eine nötige Leistung des Staates und gibt dafür viel Geld aus. Gründe, warum das die Durchforstung des Förderdschungels überstehen sollte.
Es gibt derzeit nicht viele Ereignisse, über die man besonders erfreut berichten könnte. Ich habe soeben dennoch ein solches erlebt: Weil das meine einzige Chance war, noch zu Karten zu kommen, habe ich die Jugend-Vorstellung des Musicals „Anatevka“ an der Volksoper um 11 Uhr Vormittag besucht und bin daher mit lauter Zehn- bis Fünfzehnjährigen zusammengesessen.
Mehr Begeisterung eines Publikums habe ich nie erlebt.
Dabei gehört Anatevka innerhalb der Musicals zur „Hochkultur“. Jungen Leuten, die keine Ahnung von einem jüdischen Schtetl haben, ein solches nahezubringen, ist auch für sich hohe Kunst. Die leistet eine Inszenierung des Amerikaners Matthias Davids aus dem Jahr 2003, die jetzt nur wieder aufgenommen wurde. Aber manchmal ist es geradezu erholsam, wenn ein Regisseur sich nicht, wie derzeit fast jeder, bemüht, ein Stück „ganz anders als je zuvor“ zu inszenieren, sondern wenn der Respekt vor einem sehr guten Stück – und das ist Anatevka von Jerry Bock abseits der sehr guten Musik – überwiegt.
Dazu kamen grandiose Bühnenbilder von Mathias Fischer-Dieskau, die das jüdische Schtetl Anatevka mit seiner Fröhlichkeit bei Sonnenaufgängen so perfekt illustrierten wie seine Armut, die seine lehmige Dorfstraße angesichts einer drohenden Vertreibung in einen blutigen Sonnenuntergang führen lässt – immer ist der Bezugspunkt der Perspektive fühlbar. Dazu kommt das großartige Ballett, das Staatsoper und Volksoper gemeinsam haben: Da sind russische Tanzfreude und russische Musikalität so gegenwärtig wie jüdische Tanzfreude und jüdische Musikalität – die Tänzerinnen und Tänzer „verkörperten“ sie, Die Besetzung der vielen Rollen ist tadellos, aber das Erlebnis dieser Aufführung ist, wie auch alle Kritiken sagen, Cornelius Obonya, der die Rolle des Milchmanns Tevje als Einspringer übernahm: Es ist so, als ob Tevje soeben aus dem russischen Anatvka ausgereist und in Wien eingereist wäre, wo er die Bühne der Volksoper mit seiner Heimatschtetl verwechselt. Obonya ist Tevje. Wenn er singt, wie es wäre, wenn er einmal reich wär, dann träumt man diesen unerfüllbaren Traum mit ihm und weiß gleichzeitig wie er, dass das wirkliche Glück etwas ganz anders ist. Obonya, der anders als viele Darsteller Tevje kein Jude ist, spricht die Sprache der Juden die ich kenne, ohne je zu jiddln und beherrscht den jüdischen Witz wie ich ihn nur bei Simon Wiesenthal erlebt habe, wenn er erzählt: Sagt der Blau 1939 zum Grün: „Hast schon g`hört, der Kohn hat sich umbracht“, antwortet der Grün, „na ja, wann ma kann a Sach` verbessern.“.
Alle Schüler, die diese Vorstellung gesehen haben, wissen jetzt, wie Juden sein können und da es sich um österreichische Schulklassen gehandelt hat, waren sicher Moslems unter ihnen. Keiner davon, so bin ich überzeugt, ließe sich dazu verhetzen, wie in Amsterdam, auf jüdische Fußballfans loszugehen. Er erinnerte sich an Tevje.
In Österreich, um einmal etwas extrem Positives über dieses Land zu sagen, haben die bisherigen Regierungen in Zunehmendem Ausmaß erkannt, dass Kultur ein Angebot ist, für das der Staat ebenso zu sorgen hat wie für innere Sicherheit, funktionierende Spitäler oder intakte Brücken. Ich kenne kein anderes Land, wo so viele Bühnen subventioniert werden, wo im Sommer in jedem dritten Dorf Theater gespielt wird und es zugleich so viele Festivals gibt. Österreich wird seinem Anspruch, „Kulturnation“ zu sein, wird rundum gerecht und gibt dafür im Wege verwirrender „Förderungen“, die derzeit „auf ihre Notwendigkeit hin“ überprüft werden, viel Geld aus. Ich kann nur hoffen, dass die Verantwortlichen ausnahmsweise begreifen, dass das Streichen kultureller Förderungen, ganz sicher kein Weg ist, der Wirtschaft auf die Beine zu helfen, auch wenn in Kultur investierte Geld, ausgenommen die „Salzburger Festspiele“ und die „Staatsoper“ und „Burg“ fast nur inländisches Geld einbringt, das auch sonst ausgegeben würde, auch wenn eine gewisse Umweg-Rentabilität im Fremdenverkehr hinzutritt.
Was dieses Geld dennoch bringt ist Freude und ist Befassung mit Kunst als schöpferischem Akt. Dazu sollte man wissen, dass der schöpferische Akt des Künstlers dem schöpferischen Akt des Wissenschaftlers in höchstem Maße ähnelt: Wagemut, Phantasie und Innovation sind die wichtigsten Qualitäten für große Kunst wie große Wissenschaft. An der Wissenschaft aber hängt der Fortschritt der Technik, die letztlich entscheidend für den Fortschritt der Wirtschaft ist,
Einer der besten und produktivsten Physiker der Welt, der Altösterreicher Leo Szillard (er zeichnete für den Einstein-Szillard -Kühlschrank, das Elektronenmikroskop und die Nutzung der Kernenergie verantwortlich, und war zugleich einer der Heroen der Friedensbewegung, weil er von der US-Regierung -leider vergeblich- gefordert hatte, einen militärischen Gegner zuerst einmal dem Abwurf einer Atombombe in einer unbewohnten Wüste beizuwohnen, ehe man sie wirklich einsetzt) meinte mir gegenüber über einen uns gemeinsam bekannten Durchschnittsphysiker: „Zu einem wirklich großen Physiker fehlen ihm Intuition und Phantasie „. Alle großen Physiker, die ich kannte, bestätigen das. Österreichs größten wirtschaftlichen Erfolg, das LD-Verfahren zur Herstellung hochwertigen Stahls verdankt es sechs physikalisch begabten Ingenieuren, die vor allem eines hatten: Phantasie und Intuition.